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Eines Morgens erwacht ein Mann in der Wohnung seiner Freundin und hat ein seltsames Pfeifen im Ohr. Das ist freilich nur der Auftakt für einen Tag voller Seltsamkeiten, der den Stoiker an den Rand seiner schier unendlichen Geduld bringt.

Ohrensausen (2016)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Signore Jedermann und der Lärm der Gedanken

Man muss (oder kann) sich diesen namenlosen Mann (Daniele Parisi) in Alessandro Aronadios surrealer Tragikomödie Ohrensausen als eine Art Pendant zu Tom Schilling in Jan-Ole Gersters Oh Boy vorstellen — einen Antihelden, der durch die Großstadt driftet, immer auf der Suche nach Erlösung und einer Erklärung für all die Merkwürdigkeiten, die ihm im Verlauf eines Tages so widerfahren.

Dieser Philosophie-Aushilfslehrer, um den Aronadio seine kafkaesk-vergnügliche Geschichte gebaut hat, erwacht eines Morgens in der Wohnung seiner Freundin und sieht sich nicht in einen Käfer, aber immerhin in eine tragikomische Gestalt verwandelt. Ein lästiges Pfeifen hat sich seines Gehörs bemächtigt (es sei „das Lärmen der Gedanken“, heißt es an einer Stelle), am Kühlschrank hängt eine Notiz seiner Freundin, dass sein Freund Luigi verstorben und dessen Beerdigung heute Abend sei. Nur: Beim besten Willen kann sich der wackere Mann nicht daran erinnern, wer dieser Luigi überhaupt sein soll. Während er versucht, sich an einen Freund – zumal einen guten, wie behauptet wird, zu erinnern, stören zwei Nonnen und eine übergriffige Nachbarin sein Sinnieren, bemächtigen sich seiner Wohnung und Aufmerksamkeit und entfachen schließlich einen handfesten Streit, an dessen Ende gleich mehrere Krankenwagen anrücken müssen, um die verletzten älteren Damen ärztlich zu versorgen. Wer nun freilich glaubt, nach solch einem denkwürdigen Auftakt könne es gar nicht mehr schlimmer kommen, sieht sich schnell getäuscht. Was nun folgt, ist solch ein Sammelsurium merk- und denkwürdiger Begegnungen und absurder Wortwechsel, dass dieser Start in den Tag sich dagegen wie eine immerhin prophetische Nebensächlichkeit ausnimmt.

Da ist etwa die zufällige Begegnung des Mannes mit seiner Mutter und deren neuem Lover und ein aus dem Ruder gelaufenes Mittagessen in einem Schnellimbiss, in dem der Aushilfsphilosoph nahezu aussichtslos gegen die postkapitalistische Angebotsflut und Kombinationsmöglichkeit der offerierten Menüs ankämpft – und wie so häufig im weiteren Verlauf gnadenlos verlieren wird. Oder aber das Zusammentreffen mit seiner Freundin, die er in ihrer Zahnarztpraxis aufsucht und dabei kurzerhand eine Behandlung sprengt, ohne dabei den Ort verwirrter verlassen zu haben, als er ihn betrat. Außerdem: Was hat es mit dem jungen Mann auf sich, der ihm immer wieder begegnen wird und der ihn dabei stets mit strenger Miene fixiert? Und überhaupt: Wer ist dieser verdammte (und tote) Luigi, dessen Bestattung er mit zunehmender Konfusion entgegensieht?

Es ist aber nicht allein die geistige Verfasstheit des Antihelden und dessen ziellose Odyssee durch Rom, die an Oh Boy erinnert, sondern auch der prinzipielle Erzählton zwischen surrealem Klamauk und existenzieller Not, die leicht swingende Musik, die sich mal dezent im Hintergrund hält und dann wieder als Äquivalent zu den Belästigungen des Ohrensausens und -pfeifens prominent in den akustischen Vordergrund drängt sowie die Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die zudem anfangs im ungewöhnlichen 4:3 Format daherkommen. Und zwischendrin dieser sympathische Loser, der mit nahezu unbewegter Mimik all das verwundert registriert, was um ihn herum an Seltsamkeiten geschieht.

Dass der Stoiker keinen vollständigen Namen trägt, macht ihn ähnlich wie literarische und filmische Vorbilder wie Kafkas Josef K, Italo Calvinos Signore Palomar oder Jacques Tatis Monsieur Hulot zu einem Sinnbild der gegenwärtigen conditio humanae, zu einem Vertreter des (post)modernen Menschen, der gegen die Widrig- und Aufdringlichkeiten des Lebens ankämpft und dabei stets versucht, in allem einen Sinn und eine Bedeutung zu entdecken – ein moderner Jedermann, der gerade ob seiner mangelnden Konturiertheit zur Identifikation einlädt.

Am Ende schafft es der Film nach einer ganzen Reihe von verrückten Wendungen und Unvorhersehbarkeiten, seinen Helden nach dessen Odyssee durch Rom, das erst am Ende in einigen kleinen Momenten einer Postkartenidylle gleicht, dann doch zur Ruhe und zu sich selbst finden zu lassen. Ausgerechnet bei der Trauerfeier für jenen vorgeblich besten Freund Luigi kommt es zu einer Rede dieses Herrn Jedermann, die dem zuvor chaotischen Treiben eine (fast ein wenig zu besinnliche) Aussöhnung mit der Welt im Allgemeinen und dem Lärm im Kopf im Besonderen gegenüberstellt. 

Ohrensausen (2016)

Eines Morgens erwacht ein Mann mit einem merkwürdigen Geräusch in den Ohren und einer Notiz, dass sein Auto weg und Luigi gestorben sei. Nur: er kennt überhaupt keinen Luigi …

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