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Vor drei Jahren brannte ein Wahrzeichen von Paris. Jean-Jacques Annaud hat die Ereignisse in einem Dokudrama minutiös rekonstruiert. Das Ergebnis lässt einen eher kalt.

Notre-Dame in Flammen (2022)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Unentschlossenheit und Pathos

Die Faszination für die Kathedrale Notre-Dame de Paris erschließt sich nicht allen auf den ersten Blick. Das vom 12. bis ins 14. Jahrhundert errichtete Gebäude ist weder der älteste gotische Kirchenbau Frankreichs noch der schönste; ja seine zwei Türme haben nicht einmal Spitzen! Prominent in Frankreichs Hauptstadt gelegen, in unzähligen Filmen und in Literatur von Weltrang verewigt, ist Notre-Dame freilich und der eigenen Religionsausübung ungeachtet ein Nationalheiligtum. Dementsprechend groß war das Entsetzen, als die Kirche vor drei Jahren in Flammen stand. Jean-Jacques Annaud, der in seiner langen Karriere noch nie vor unmöglich erscheinenden Produktionen zurückschreckte, hat aus den Ereignissen vom 15. April 2019 ein Dokudrama gemacht.

Für einen Sicherheitsmann beginnt an diesem verhängnisvollen Datum der erste Arbeitstag in der weltberühmten Kirche. Die Arbeitskleidung ist ein paar Nummern zu groß und alsbald wächst ihm auch seine verantwortungsvolle Aufgabe über den Kopf. In einer kleinen Abstellkammer hat er die Brandschutzanlage im Blick. Als Feueralarm im Dachstuhl über der Sakristei ausgelöst wird, macht der Neuling alles richtig, doch seine Kollegen machen einiges falsch. Und das Unglück nimmt seinen Lauf …

Beinahe in Echtzeit sieht das Kinopublikum der Katastrophe zu. Annaud wirft es mitten hinein ins Gewusel der Reisegruppen, denen die Architektur der Kirche und all die Kleinodien und Reliquien, die sie beherbergt, nahegebracht werden. Im Zentrum von Paris herrscht babylonische Sprachverwirrung. Und auch die Sicherheitsleute sind verwirrt. Erst müssen alle raus aus dem Gotteshaus an der Seine, dann dürfen sie wieder rein, weil nach einem keuchenden Spurt unters Dach kein Brandherd entdeckt werden konnte. Fehlalarm, wie es scheint. Das System spinne schon seit Jahren. Auf die Idee, einmal draußen nachzusehen, kommt niemand.

Dort und mit etwas mehr Abstand zum Gebäude ist bereits eine deutliche Rauchsäule zu erkennen, was die Umstehenden auch alle fleißig mit ihren Smartphones filmen und im Internet posten. Auf die Idee, die Feuerwehr zu alarmieren, kommt ebenfalls niemand. Je klüger das Telefon, desto dümmer die Menschen. Und die menschliche Dummheit kennt bekanntlich keine Grenzen. Als die Feuerwehr endlich ausrückt, eine geschlagene halbe Stunde, nachdem erstmals Alarm ausgelöst wurde, kommt sie nur im Schritttempo voran. Die Löschwagen stecken im Verkehr fest – und all die Fahrzeuge und Schaulustigen drumherum machen keinerlei Anstalten, den Weg freizumachen. Was sie freilich nicht davon abhält, sich darüber zu wundern, wo die Feuerwehr bleibt.

Jean-Jacques Annaud ist ein Garant für atemberaubendes Kino. Ganz egal, ob einem die dick aufgetragene Dramaturgie seiner Filme ge- oder missfällt, die Bilder überwältigen und drängen förmlich auf die große Leinwand. Ob er in Am Anfang war das Feuer (1981) von den ersten Menschen erzählte, in Der Bär (1988) vom Kampf eines Menschen gegen ein Tier oder in Der letzte Wolf (2015) von der Liebe eines Menschen zu einem Tier – stets boten die Filme des 1943 geborenen Franzosen Spektakel. Im Mittelalterkrimi Der Name der Rose (1986), der Abenteurer-Erleuchtungs-Schmonzette Sieben Jahre in Tibet (1997) und der Weltkriegsaction Duell – Enemy at the Gates (2001) war es nicht anders. Und vermutlich sollte es auch in seinem jüngsten Film so werden. Doch die für Annaud ungewohnte Form macht ihm einen Strich durch die Rechnung.

Das Gute vorweg: Obwohl Annaud nicht am Unglücksort drehen konnte – denn der Wiederaufbau von Notre-Dame de Paris war zum Drehbeginn längst noch nicht abgeschlossen – und deshalb auf verschiedene andere Gotteshäuser und das Filmstudio ausweichen musste, ist dies seinem Drama nicht anzumerken. Auch der dokumentarische Ansatz, der die Handlung nicht entlang einer oder mehrerer Figuren, sondern entlang des Ablaufs der Ereignisse und zunächst als Verkettung unglücklicher Umstände erzählt, steht dem Film anfangs gut zu Gesicht. Wer Annauds Filme schon immer zu pathetisch fand, wird geradezu positiv überrascht sein.

Diese Form hat jedoch ihre Schwächen, die immer offensichtlicher werden, je länger der Film dauert. Die schiere Fülle der Figuren, der stete Wechsel von einer Figur zur nächsten und der Umstand, das bis kurz vor Schluss neue Figuren in die Handlung eingeführt werden, macht es schlicht unmöglich, sich mit ihnen zu identifizieren. All die Wach- und Feuerwehrleute, die Kirchenmenschen, Kunstverständigen und Politiker, die an diesem Tag dafür verantwortlich zeichneten, dieses Nationalheiligtum und all seine Schätze zu retten, bleiben seltsam konturlos. Schlimmer noch: Da Annaud sein Pathos selbst in diesem ungewohnten Mix aus dokumentarischem Archivmaterial und actionreichem Reenactment nicht gänzlich abstellen kann, wirken einige Szenen deplatziert und manche von den Darstellern gezeigte Emotion aufgesetzt.

In diesen Momenten, in denen sich Feuerwehrleute und Priester dann eben doch in bester Hollywoodmanier zu Held:Innentaten aufschwingen, weiß man nicht recht, ob sich Annaud aufrichtig vor ihnen verneigt oder sich über den Aufwand, der hier betrieben wird, biblischen Tand vor dem Flammentod zu retten und dabei Menschenleben aufs Spiel zu setzen, nicht auch ein wenig lustig macht. Diese Unentschlossenheit zwischen Realismus und Pathos tut dem Film nicht gut. Die Luft ist allzu früh raus. Das bei Annaud zu erwartende flammende Inferno bleibt aus.

Notre-Dame in Flammen (2022)

Ein Film aus dem Inneren des Feuer in der Kathedrale Notre-Dame de Paris im April 2019.

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