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Alain Guiraudies sechster Langfilm ist eine in Zentralfrankreich angesiedelte Schwarze Komödie über Lust und (Terror-) Paranoia, die mit laufender Spiellänge an Biss verliert.

Nobody's Hero (2022)

Eine Filmkritik von Julian Stockinger

Paranoia und Lust in Clermont-Ferrand

Die Pariser Terroranschläge vom 13. November 2015 haben nicht nur im Sicherheitsgefühl Frankreichs ihre Spuren hinterlassen. Bilder, die man in Europa eher mit fernen Ländern assoziierte, verunsicherten Gesellschaften plötzlich aus ihrer eigenen Mitte heraus. Regisseur Alain Guiraudie selbst wurde im Zuge dessen von der Paranoia-Welle gepackt, wie er im Gespräch auf der Viennale offen berichtete. Aus diesem Gefühl und dem daraus entstandenen Konflikt mit sich selbst entwickelte er schließlich den Stoff für seine Schwarze Komödie „Nobody’s Hero“.

Der Filmtitel behält Recht, denn von einem klassischen Helden kann man nicht sprechen. Der schrullige, einzelgängerische Médéric (Jean-Charles Clichet) bedient das größte Klischee und gleichzeitig das klarste No-Go im Umgang mit Sexarbeiter*innen: Er will die deutlich ältere Isadora (Noémie Lvovsky) verführen, will mit ihr ins Bett, ohne dafür bezahlen zu müssen. Immerhin sei er in sie verliebt und besorge es ihr, im Gegensatz zu allen anderen, so richtig. Tatsächlich landen die zwei im Hotel. Isadora, die anfangs garantiert nicht vorhatte, das Etablissement unbezahlt zu verlassen, willigt schließlich in den gratis Sex ein. Zu gut ist er mit Zunge und Becken, dieser Médéric.

Gestört wird das Liebesspiel zuerst von Fernsehnachrichten, denen zufolge in ihrer Stadt Clermont-Ferrand ein terroristischer Anschlag verübt wird. Dem wenig Beachtung schenkend und sich vielmehr einem Boobjob widmend, werden sie endgültig von Isadoras Ehemann unterbrochen: Jetzt sei nicht die Zeit für Sexarbeit. Er entschuldigt sich bei Médéric und verlangt von seiner Frau, dass sie ihm sein Geld zurückgibt.

Dass die Sexarbeiterin an diesem Abend für Sex bezahlen muss, ist sicherlich einer der witzigsten Einfälle des Films. Überhaupt ist er am stärksten in seiner ersten Hälfte, wo er sich um einige wenige Figuren konzentriert. Die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Médéric und Isadora, die auch nicht vor Quickies in der Kirche haltmacht, bereitet großen Spaß. Der Sex ist verhältnismäßig explizit und mit der bald 60-jährigen Noémie Lvovsky mit Mut zum längst überfälligen Pseudotabu-Bruch besetzt. Auch die ersten Begegnungen mit dem obdachlosen Flüchtling Selim (Iliès Kadri), die den kleinen Kreis um eine Person erweitern, fügen sich stimmig ins Geschehen.

Guiraudies liefert an dieser Stelle noch keine befriedigenden Antworten auf hochkomplexe Gesellschaftsprobleme. Später tut er das indirekt, indem er jedes Klischee nahezu zwanghaft umkehrt und seinen Film dadurch der Belanglosigkeit preisgibt. In der ersten Hälfte konfrontiert er das Publikum noch gekonnt mit seinem eigenen Begehren und schließlich mit seiner eigenen Paranoia. Médérics Entschluss, die Polizei, trotz sehr geringer Indizienlage, auf den obdachlosen Selim zu hetzen, ist für das privilegierte Publikum, das der Film anspricht, verstörender Weise nachvollziehbar. In diesen wenigen Szenen, die schmerzhaft, weil konfrontativ, und witzig zugleich sind, liegen die Stärken des Films. Zu bröckeln beginnt das Gefüge, als sich der Regisseur und Drehbuchautor dazu entscheidet, die Figurenkonstellation zu vergrößern. Denn schließlich nimmt Médérics gesamte Nachbarschaft am Geschehen teil.

Es wirkt, als würde sich der Regisseur unter Einbezug mehrerer Charaktere auch einem größeren Publikum öffnen wollen. Daraus folgt ein viel zu gefälliges letztes Drittel. Der Hauch von edginess, den der Film mit seinem wilden Sex und seinen ostentativen Plot-Entscheidungen versprüht, wird radikal verblassen. Nobody’s Hero verkommt zum belanglosen crowd pleaser. Da stößt dann nichts mehr sauer auf, im Gegenteil: Es scheint, als würde Guiraudie sich beim Publikum für den anfänglichen Schock, eine Komödie über Frankreichs Nationaltrauma gemacht zu haben, entschuldigen wollen. Es scheint, als hätte er sich dafür entschieden, auf halber Strecke doch noch das gut zahlende Französische-Sommerkomödien-Stammpublikum mitzunehmen. Das wird ihm auch gelungen sein, mit dem Zusatzeffekt, dass sich in naher Zukunft kaum wer an seinen Film erinnern wird können.

Nobody's Hero (2022)

Nach einem Terroranschlag im französischen Clermont-Ferrand treibt ein ungewöhnlicher Figurenreigen um einen sympathischen Mittdreißiger, eine ältere, verheiratete Sexarbeiterin und einen jungen, arabischstämmigen Obdachlosen die Ereignisse voran.

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