Log Line

Der Streit um die Erziehung der kleinen Masha eskaliert zwischen ihrer frisch aus dem Gefängnis entlassenen Mutter Olga und der Großmutter, die sich in der Zwischenzeit um sie gekümmert hat. Kirill Sokolow inszeniert ihren unerbittlichen Kampf als rasante Gesellschaftssatire.

No Looking Back (2021)

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Um jeden Preis

Sein erster Langfilm Why don’t you just die! machte 2019 erfolgreich die Runde durch die wichtigsten europäischen Genre-Filmfestivals. Der Titel ist durchaus wortwörtlich zu nehmen, denn  geht es nicht zimperlich zu. Es braucht nur einen kleinen Funken, um die Protagonisten in Kirill Sokolows Gewaltorgie in Bewegung zu setzen. Fliegt der erste Faustschlag, gibt es kein Zurück. Fast wie ferngesteuert, als wären sie aufgezogene Spielfiguren, treibt es die Opponenten in ihrem Todeskampf gegeneinander. Es bleibt kein Raum für Reflexion, Vernunft kommt nicht mehr durch, etwas Triebhaftes übernimmt die Kontrolle. Der Mensch, seiner menschlichen Eigenschaft, Mitleid und Empathie für andere zu empfinden, entledigt, steht sich selbst am nächsten, solange es dem eigenen Überleben dient, ist alles erlaubt. 

Es ist ein düsteres Bild, das der Regisseur von seiner eigenen, der russischen Gesellschaft zeichnet. Mit den Mitteln der Satire versucht er, ein Gegengewicht zu finden, doch wirkt das Ganze dadurch nur noch trostloser. Diese Stimmung wiederholt sich auch in No looking back, Sokolows aktuellem Film. Auch hier spielt die Familie eine entscheidende Rolle. Die Gewaltspirale versammelt drei Generationen von Frauen: Großmutter (Anna Mikhalkova), Mutter (Victoria Korotkova) und Enkelin (Sofia Krugova). 

Olga, die Mutter, war vier Jahre im Gefängnis, weil sie ihrem aufdringlichen, gewalttätigen Freund Oleg ein Auge ausgestochen hatte. Noch am letzten Tag in Haft steckt sie von der Gefängnisdirektorin und ihrem Sohn eine heftige Tracht Prügel ein – einfach so, aus lauter Gewohnheit. Mit geschwollenem Gesicht erreicht sie ihre Mutter, die sich in der Zwischenzeit um ihre Tochter Masha gekümmert hat, und verlangt die Herausgabe Mashas, mit der sie in die Stadt ziehen will. Mit Worten werden sich die Frauen nicht einig, Olga fängt sich einen Messerstich in die Schulter ein, ihrer Mutter verpasst sie einen Schlag auf die Nase. 

Olga nimmt Masha an die Hand und flieht. Ihre Mutter setzt ihr nach, entschlossen, die Enkelin um keinen Preis gehen zu lassen. Ob sie denn soweit gehen würde, dafür die eigene Tochter zu töten, fragt Oleg (Aleksandr Yatsenko), den sie als Fahrer und Lakai verpflichtet hat. „Um jeden Preis“, wiederholt sie. Das Katz-und-Maus-Spiel wird eine Nacht und einen Tag dauern, durch den Wald führen, an einem Campingplatz am See einen ersten und auf einer Landstraße einen zweiten Schusswechsel verursachen, bis es zur finalen Konfrontation kommt.  

Eindeutig hat sich Sokolow in Aufbau und Ästhetik vom Westernfach inspirieren lassen. Verfolgungen, Schießereien, bei denen Unbeteiligte (ein etwas dümmlicher Polizist einerseits und arglose Angler am See andererseits) hineingeraten, und unwirtliche, menschenleere Orte werden in satte, warme Farben getaucht. Sokolow persifliert das Genre, das er in die Gegenwart verlegt und macht sich eine „Auge-um-Auge“-Haltung zu nutze, mit der er eine Stimmung erzeugt, die der in einigen Filmen Tarantinos wie Kill Bill oder The Hateful Eight sehr nahe kommt. Seine Protagonisten sind im Vergleich dazu allerdings viel weniger intellektuell gezeichnet, sondern roher. Zu Gesprächen kommt es nicht, es ist die Gewalt, die spricht. Einmal verstummt diese kurz, als Olga auf die Aussage ihrer Mutter reagiert, die sie als kein geeignetes Vorbild für die Enkelin sieht: Sie sei ja auch nur so geworden, weil sie sie als Mutter hatte, entgegnet sie. Dies ist eine der Schlüsselszenen des Films. Genau auf diesen scheinbar undurchdringbaren Teufelskreis zielt Sokolow ab. 

Von Generation zu Generation wird ein diffuser Frust und eine entsprechende Wut weitergetragen. Geschuldet ist sie vielleicht einer allgemeinen Perspektivlosigkeit, die Sokolow in der russischen Gesellschaft zu erkennen glaubt. In der Geschichte drückt sich das im Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, zwischen Eltern und Kindern insgesamt aus, aber auch in der Beziehung zwischen Olga und Oleg. Letzterer gibt sich immer wieder als gnädiger Ritter, der Olga den Angriff, in dem er sein Auge verlor, längst verziehen hat und bereit ist, sie zurückzunehmen. Dass er für Olgas Verständnis noch glimpflich davon gekommen ist, da sie sich nur gegen seine wiederholten Prügeleien wehrte, sieht er nicht. Es könnte schon fast rührend sein, wie selbstgerecht er ist, wenn diese, vertraute, Rhetorik nicht so empörend wäre.

No Looking Back (2021)

„Bitch! Piece of crap! Asshole! Scum!” – keine Frage, das Gör Masha hat ein Aggressionsproblem. Nun, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Mutter Olga hockt wegen einer impulsiven Bluttat im Knast und die Großmutter geht auf die Verwandtschaft schon mal mit dem Küchenmesser los. Als Olga entlassen wird, fackelt sie nicht lange und entführt Masha aus der Obhut der Oma. In der Folge eskaliert es in der Familie, die mit dysfunktional noch beschönigend beschrieben ist, komplett. Leinwand frei für einen bis über die Schmerzgrenze rabenschwarzen Roadtrip, bei dem eine kuriose Wendung die nächste aus dem Nichts kommende Gewaltspitze jagt.

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