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Angela Schanelec ist eine Kategorie für sich, und „Music“ ist keine Ausnahme. Rudimentäre Story, eingebettet in ausgesucht meditative Bilder: Das reicht für einen Film.

Music (2023)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Ödipus, oder was?

Angeblich ist „Music“ eine freie Interpretation des Ödipus-Mythos. Dem das Orakel vorhersagte, Papa zu töten und Mama zu heiraten, und dem es trotz aller Bemühungen nicht gelingt, diesem Schicksal zu entkommen. Wer sich ein gesundes Halbwissen an Psychoanalyse angefressen hat, sieht den Ödipus in ungefähr jedem Film, in dem ein Vater- oder eigentlich schon ein Generationenkonflikt vorkommt. Angela Schanelec umgeht diesen einfachen Weg und einen wirklichen Konflikt gleich mit, dafür macht sie, was sie immer macht: lange Kameraeinstellungen und Figuren, die weniger Darsteller als Dasteher sind. Die sich lange angucken und in die man viel hineinlesen kann. Meditative Bilder, in denen man sich verlieren kann. Elliptische Schnitte und der dem Film eingeschriebene Zwang, sich anzustrengen, um sich zurechtzufinden in der rudimentären Handlung.

Blicke von oben auf Berg und Tal, minutenlang ziehen Wolken ins Bild, jemand trägt jemand anderes, weinend, jemand krabbelt den Hang hoch zwischen umhergeworfenen Kisten, jemand ist tot, er trägt eine Brille. In einem Ziegenstall weint ein Baby, außen liegt ein Strohhut. Das Ganze hat so wenig wie so viel mit der folgenden Handlung zu tun, weil die folgende Geschichte wie auch die nachfolgende Geschichte für sich steht und weil Schanelec diese Episoden miteinander verbindet, indem sie aus ihnen diesen Film gemacht hat.

Wer bisher mit Schanelec nichts anfangen konnte, wird auch mit diesem Film nicht glücklich werden. Wer bisher jeden neuen Schanelec begierig aufgesogen hat, bekommt, was er/sie will, und mehr davon. Ich zähle eher dem ersteren Lager zu, bin allerdings aufgeschlossen. Und lasse mich auf die gewollte Rätselhaftigkeit ein, bei der man weder weiß, wer nun diese Figuren sind, die ins Bild geraten, noch, wie sie zu einander stehen, noch, zu welchem Zeitpunkt genau diese Szene denn nun spielt.

Jon gerät in den Mittelpunkt des Films. Er hat wunde Füße. Seine Freunde baden im Meer. Er wird von einem Typen, Lucian, mit Brille, zwangsweise geküsst. Stößt ihn zurück, Lucian ist tot. Jon kommt ins Gefängnis. Die Figuren, die vorher im Bild waren, sind nun weg, dafür tritt Iro ein. Sie guckt ganz viel, auf den Boden oder an die Decke, Blicke voller Sehnsucht suchen das Glück. Jon ist das Objekt ihrer Begierde, das merken wir schnell, auch wenn keiner was sagt, aber wie sie beim Tischtennisspiel hochguckt dahin, wo wir sein Zellenfenster vermuten müssen … Jedenfalls beginnt der Film nun seinem Titel gerecht zu werden (ohne zu erklären, warum Music mit englischem C geschrieben wird), Iro nimmt nämlich Musik für Jon auf, und er singt in seiner Zelle im Sopran und hat einen Zettel mit klassischen Komponisten an die Wand gehängt. 

Er kommt raus und trägt jetzt Brille, sie ist schwanger, dann haben sie viele Kinder, und als Italien in der 118. Minute das entscheidende Tor schießt, telefoniert sie. Mit wem, weiß man nicht, auch nicht warum, aber nach einer Stunde kommt die Erkenntnis, die ihre Seele umstürzt. Es ist die Erkenntnis, die Schanelec der griechischen Tragödie entnommen hat. Sie erfährt, dass Lucian vor sieben Jahren von Jon getötet wurde. Was sie mit Lucian zu tun hatte, der offenbar schwul war, ist egal. Eine Eidechse krabbelt ihren Fuß hoch, und sie stürzt sich die Klippe runter ins Meer.

Es geht noch weiter. In Berlin. Und man kann viele Details noch aufzählen, aus denen Schanelec ihren Film zusammenbaut, kommt aber doch durch das Zählen der Bäume nicht auf den Wald. Immer wieder geraten Babys ins Bild oder auf den Soundtrack, immer wieder kommt Musik vor, traurig am Fenster gesungen oder an der Musikhochschule oder beim Konzert oder auf dem Heimweg vom See. Immer wieder stirbt jemand. Vielleicht hat das alles mit dem Kreislauf von Werden und Vergehen zu tun, und dazwischen liegt das Schicksal. Was reichlich banal wäre, würde Schanelec nicht die ewig währende Musik hinzufügen, die über Jahrhunderte besteht, und damit Gefühle heraufbeschwören, die ewig währen, die in der Musik liegen und die nicht ans Individuum gekoppelt sind. Vielleicht liegt auch sehr viel mehr in diesem Film. Ich persönlich sehe es nicht, und ich sehe auch keine Veranlassung, mehr sehen zu wollen.

Music (2023)

Jon kommt in einer stürmischen Nacht in den griechischen Bergen zur Welt. Bereits kurz nach der Geburt wird er ausgesetzt und adoptiert, ohne seinen Vater oder seine Mutter gekannt zu haben. Im Erwachsenenalter muss er infolge eines tragischen Unfalls eine Gefängnisstrafe antreten. Dort macht er die Bekanntschaft mit Iro. Die Aufseherin scheint Jons Gegenwart zu suchen. Sie beginnt sich um ihn zu kümmern und Musik für ihn aufzunehmen. Eines Tages beginnt sich Jons zu verschlechtern. In der Folge bekommt er für jeden Verlust, den er erleidet, etwas zurück. Obwohl Jon erblindet, beginnt er sein Leben mehr denn je auszukosten.

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