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In „Mulholland Drive“ beweist David Lynch seinen Sinn für düsteren Humor und entwirft zwei wunderbar schillernde Frauenfiguren, die von Naomi Watts und Laura Elena Harring bravourös zum (Doppel-)Leben erweckt werden.

Mulholland Drive (2001)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Boulevard der zerbrochenen Träume

David Lynch ist ein Meister des Surrealen – nicht nur auf der Kinoleinwand (etwa mit „Eraserhead“, „Blue Velvet“ und „Lost Highway“), sondern auch auf dem Fernsehbildschirm, dank „Twin Peaks“ (1990-1991, 2017), seiner ganz speziellen Version einer Seifenoper, die uns mit Krimi-, Mystery- und Horrorelementen auf einen rätselhaft-hypnotischen Trip einlädt. „Mulholland Drive“ nimmt in Lynchs Œuvre wiederum eine interessante Stellung zwischen diesen beiden Wirkungspolen ein, da der Autor und Regisseur den Stoff zunächst als TV-Serie für das US-Network ABC konzipiert und gedreht hatte. Als der entstandene Fernseh-Pilotfilm abgelehnt wurde, sprang der französische Sender Canal+ ein. Lynch konnte daraufhin weitere Szenen realisieren – und ein Werk für die große Leinwand schaffen, das 2001 in Cannes seine Premiere feierte und dem Macher dort den Regiepreis einbrachte.

Wie bei Lynch üblich lässt sich das filmische Geschehen nur unzureichend wiedergeben. Es beginnt damit, dass eine dunkelhaarige Frau (Laura Elena Harring) in einer Limousine auf dem titelgebenden Mulholland Drive unterwegs ist. Als der Wagen anhält, wird sie plötzlich mit einer Waffe bedroht. Nach einem heftigen Unfall irrt sie durch das nächtliche Hollywood – ohne eine Erinnerung daran, wer sie ist. Es gelingt ihr, sich in das Apartment der älteren Schauspielerin Ruth (Maya Bond), die gerade nach Kanada reist, zu schleichen. Kurze Zeit später taucht dort Ruths Nichte Betty (Naomi Watts) auf – eine fröhliche, junge Frau aus der kanadischen Provinz, die sich eine Karriere in der Traumfabrik erhofft. Nach einigen Missverständnissen freunden sich Betty und die Erinnerungslose, die sich in Anlehnung an den Filmstar Rita Hayworth fortan „Rita“ nennt, an. Gemeinsam wollen die beiden herausfinden, was „Rita“ zugestoßen ist.

Parallel dazu wird unter anderem von dem Regisseur Adam Kesher (Justin Theroux) erzählt, der von mehreren obskuren Gestalten, etwa vom sogenannten „Cowboy“ (Monty Montgomery), mit allen Mitteln dazu gedrängt wird, eine junge Schauspielerin namens Camilla Rhodes für sein nächstes Projekt zu besetzen. Außerdem sehen wir, wie der linkische Auftragsmörder Joe (Mark Pellegrino) einen Job erledigt und dabei diverse haarsträubende Fehler begeht – und wie ein Mann (Patrick Fischler) in einem Schnellrestaurant von einer Schreckensvision berichtet, die sich alsbald zu bewahrheiten scheint.

All diese Plotkomponenten kehren im Laufe des Films zurück, gewinnen neue Bedeutungen – und sind auf ihre jeweils eigene Weise ein Faszinosum. So zeichnen sich die Stränge um den zunehmend verzweifelten Adam, der nebenbei noch von seiner Gattin Lorraine (Lori Heuring) betrogen wird, und um den vom Pech verfolgten Joe in erster Linie durch einen herrlich absurden Witz, oft gepaart mit perfektem Slapstick aus. Ominöse Meetings, ein eskalierender In-flagranti-Moment in einer Luxusvilla und eine bizarre Mordaktion – Lynch demonstriert hier, wie gut er schwarzen Humor beherrscht. Die äußerst beklemmende Sequenz im Diner mit dem Charakterkopf Patrick Fischler bietet derweil, nicht zuletzt durch das gekonnte Sounddesign, jene virtuose Albtraumqualität, für die der Autorenfilmer berühmt ist.

Das wild pochende Herz des Films sind jedoch unzweifelhaft Naomi Watts und Laura Elena Harring in ihren (Doppel-)Rollen. Wie die anfangs so unbekümmerte Betty und die enigmatische „Rita“ zueinanderfinden, ist eine sehr schöne Darstellung von Female Bonding: Die beiden bauen gegenseitiges Vertrauen auf, unterstützen einander und entwickeln auf der Suche nach „Ritas“ Identität eine Liebe, die sich bei allen Absonderlichkeiten, die um die beiden herum geschehen, absolut nachvollziehen und mitfühlen lässt. Dass Naomi Watts durch Mulholland Drive zu einem großen, vielfach preisgekrönten Star avancierte, ist völlig verständlich. Das Leuchten in der hoffnungsvollen, verträumten Betty zu Beginn der Handlung verkörpert Watts ebenso überzeugend wie die Brüche, die sich nach und nach ergeben – bis hin zum endgültigen Nervenzusammenbruch. Zudem zeigt Lynch lange vor der #MeToo-Ära in einer Szene, in der Betty für einen Part vorspricht, wie unangenehm und professionelle Grenzen überschreitend ein Casting gerade für eine noch unerfahrene Schauspiel-Aspirantin ablaufen kann. Watts agiert in dieser zutiefst eindrücklichen Passage brillant. Und auch Harring ist durchweg großartig und wandelbar, im umgekehrten Weg von der verstörten Schatten- zur glamourös-selbstbewussten Lichtgestalt.

Ob sich Lynch mit den Entschlüsselungshinweisen, die er im Guardian gab (zum Beispiel „Achten Sie auf den Bademantel, den Aschenbecher, die Kaffeetasse“), nicht eher über Leute lustig macht, die seine Filme unbedingt vollends begreifen wollen, möchten wir dahingestellt sein lassen. Mit Gewissheit lässt sich indes festhalten, dass Mulholland Drive eine unvergleichliche Sogwirkung hat. Zerstörte Träume, enttäuschte Gefühle, eine Straße, die über etliche Kurven ins Unglück führt – dieses Werk erfasst so vieles und ist zugleich unglaublich schön und wahrlich beängstigend. „It is… an illusion!“, heißt es bei einer befremdlichen Theateraufführung, die Betty und „Rita“ besuchen. Nichts ist echt, dennoch hat alles einen intensiven Effekt auf uns. Und der Rest ist – ganz dramatisch – Schweigen. Silencio!

Mulholland Drive (2001)

Bei einem Autounfall auf den Hügeln über Hollywood verliert eine schwarzhaarige Schönheit ihr Gedächtnis und sucht verstört in einem leerstehenden Appartment Zuflucht. Dort zieht am nächsten Tag die naive Schauspielerin Betty ein, die in der Traumfabrik auf die große Karriere hofft. Die Frauen freunden sich an und versuchen gemeinsam, das Geheimnis um die Identität der Schwarzhaarigen zu…

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