Mr. Gaga (2015)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Echos aus dem Innersten des Körpers

„Tanz ist ein Telegramm an die Erde mit der Bitte um Aufhebung der Schwerkraft.“ (Fred Astaire)

Ein Mann und eine Gitarre: zusammen liegen sie in der Badewanne, zusammen jammen sie feuchtfröhlich vor sich hin. Dann versucht sich dieser Mann auch noch als Sänger, ohne Folgen, denn ein größeres Publikum hatte er hier ursprünglich nicht zu befürchten. Im nächsten Moment dreht er die Gitarre um 180 Grad und kippt das ganze Wasser heraus: Ein bisschen verrückt ist der ja schon, denkt man sich da fast zwangsläufig … Festgehalten wurde das Ganze im Zeitreise-Format VHS, aufgenommen irgendwann im subkulturell aufblühenden New York City der frühen 1980er Jahre. Jener seltsam daherkommende Mann wurde später – wenig überraschend – kein großer Sänger, aber einer der innovativsten Choreografen unserer Zeit: Ohad Naharin alias Mr. Gaga, so der Titel des neuesten Films aus der renommierten Dokumentarfilmerschmiede der israelischen Heymann-Brüder Tomer (Regie) und Barak (Produktion). Im Frühjahr haben sie erst mit Who’s Gonna Love Me Now?, dem Nachfolgeprojekt zu Mr. Gaga, erfolgreich auf der Berlinale reüssiert (Publikumspreisträger innerhalb der Panorama-Sektion). Seit Jahren schon laufen ihre vielfach dekorierten Arbeiten (z.B. Paper Dolls oder I Shot My Love) auf den besten Dokumentarfilmfestivals der Welt, innerhalb der Branche werden sie bereits als neue Maysels-Brothers gefeiert. Da sind die Erwartungen natürlich hoch …

Nicht weniger hoch sind auch die Erwartungen des Meister-Choreografen und Ex-Tänzers Naharin (u.a. bei Martha Graham, der Grand Dame des Modern-Dance-Movements) an seine Eleven, ungeschönt eingefangen von Itai Raziels angenehm diskreter Kamera. „Du musst es einfach geschehen lassen“, insistiert er gegenüber einem Ensemblemitglied. Genau das tut er mit Nachdruck, wenn es sein muss, gerne auch mal laut – und vor allen anderen Mitgliedern der Tanzkompanie. „He was tough, always really, really tough“, hört man dazu gleich mehrere O-Ton-Geber in Heymanns Portraitstudie über seinen isralischen Landsmann, unter ihnen auch die tanzerprobte Hollywood-Aktrice Natalie Portman, die das Filmprojekt per Kickstarter-Video von Anfang an protegierte. Denn nichts weniger als völliges Fallenlassen-Können fordert der heutige Star-Choreograf, der selbst übrigens erst im stolzen Tanz-Methusalem-Alter von 22 Jahren seine ersten Schritte wagte.

Aufgewachsen im Kibuzz Misra, diente er – Jahrgang 1952 – vorher der israelischen Armee in unruhigen Kriegszeiten und lernte dort die künstlerisch veranlagten Soldaten der „Abteilungstruppe Unterhaltung“ mit ihren Einlagen kennen und lieben. Geschichten vom Schrecken und Unsinn des Krieges wie der damaligen Zeit werden in ruckelnden, ausgewaschenen Found-Footage-Bildern erzählt, überhaupt wird recht viel Fremdmaterial in Mr. Gaga eingesetzt. Narrativ wird überdies meist klassisch aus dem Off vorgegangen. Was relativ konventionell in der Art aussieht und im ersten Moment so gar nicht zum bildlich mehrfach eingestreuten, wild-exzessiv performten „Gaga-Stil“ des Maestros passen will, erklärt sich in Tomer Heymanns zurückgenommer Regie erst recht spät: Beide sind zwar seit über 25 Jahren miteinander befreundet, aber ein Filmteam wollte der exzentrische Groß-Choreograf prinzipiell nie in seiner näheren Umgebung haben.

Nur durch jahrelanges, charmant-penetrantes Zureden seitens der Heymann-Brüder und eine seltene Vielfalt an Geldgebern aus verschiedensten Ländern (wie z.B. Schweden, Niederlande, Deutschland, Israel) plus erfolgreicher Crowdfunding-Kampagne konnte dieses besondere Tanz-Film-Projekt am Ende realisiert werden. Und so wurde es tatsächlich doch einmal möglich, mit der Kamera in die geheimen Tanz-Ateliers zu spitzen. Oder visuell wahrlich betörende Eindrücke einzufangen, die sich im Rahmen der berühmten Workshops mit Kindern, Kranken oder körperlich beeinträchtigten Menschen jeden Alters boten.

Am Ende beanspruchten sporadische Dreh- und noch viel längere Postproduktionszeiten gute acht Jahre, was auch den zuweilen fehlenden roten Faden erklärt. Trotzdem ist Tomer Heymann mit diesem außergewöhnlichen Künstler-Portrait – das weniger einer Personen-Studie, sondern viel mehr einem regelrechten Tanz-Plädoyer gleicht – zum wiederholten Male eine künstlerische Dokumentarfilm-Delikatesse gelungen. „Ich tanze jeden Tag. Und ich möchte, dass das jeder tut“, verkündet der weltberühmte Kopf der Batsheva Dance Company aus Tel Aviv regelmäßig seinem Publikum. Direkte Interaktion heißt sein Credo. Egal ob bei seiner Arbeit am Staatsballett Berlin oder in Massen-Tanz-Happenings, die ihm als Künstler genauso viel bedeuten. „Verloren sei uns der Tag, wo nicht ein Mal getanzt wurde“, liest sich dieser Ansatz, ähnlich formuliert, schon bei Friedrich Nietzsche. Tanz als Universalsprache, als wahrliches Wunder- und Genesungsmittel der besonderen Art. So lautet dann auch der Tenor aus Naharins lebenslanger Choreografen-Tätigkeit wie aus Heymanns berauschendem Film.

„Ich glaube wirklich an die heilende Kraft des Tanzes“, postuliert er einmal nachdrücklich sein bewusst regelbrechendes Konzept. Und genau das sieht man dann auch in den Gesichtszügen der alten und jungen Tänzer in der langen Schlusssequenz, in der – frei von Worten – endlich die Körper sprechen dürfen: Der sich selbst windende Mr. Gaga wird hier zu einer Art Mr. Freedom, der seine spezielle Anti-Technik (inklusive Begriffen wie „yoho“, „mika“ oder „boya“) mit Witz und Disziplin unter die Leute bringt. Plötzlich scheinen sich Raum-, Körper- und Zeitgefühl an dieser Stelle völlig aufzulösen. Alleine diese Momente brennen sich ins Gebein jedes Zuschauers. Oder frei nach Nina Hagen: „Ist alles so schön fluide hier!“. Eben instinkthaft – animalisch – pulsierend.

Mr. Gaga (2015)

Ein Mann und eine Gitarre: zusammen liegen sie in der Badewanne, zusammen jammen sie feuchtfröhlich vor sich hin. Dann versucht sich dieser Mann auch noch als Sänger, ohne Folgen, denn ein größeres Publikum hatte er hier ursprünglich nicht zu befürchten. Im nächsten Moment dreht er die Gitarre um 180 Grad und kippt das ganze Wasser heraus: Ein bisschen verrückt ist der ja schon, denkt man sich da fast zwangsläufig …

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