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In seinem kunstvoll verschachtelten neuen Werk eröffnet Hirokazu Koreeda verschiedene Perspektiven auf Fragen von Schuld, Verantwortlichkeit und Missverständnissen, die seine Protagonist*innen an den Rand der Verzweiflung und darüber hinaus führen.

Die Unschuld (2023)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wer ist hier das Monster - du oder ich?

Wie schnell man dieses Wort unbedacht in den Mund nimmt — Monster. Im Streit leichtfertig oder absichtsvoll verletzend ausgesprochen, bezeichnet es den Anderen, macht ihn zum Fremden, Bestialischen, zum maximalen Gegensatz „normaler“ Menschen, zu denen man (natürlich) selbst zählt. Monster kann und muss man nicht verstehen, man muss sie vielmehr bekämpfen bis zur Vernichtung und Auslöschung ihrer bloßen Existenz. Zahlreiche Märchen, Mythen und Sagen und deren moderne Entsprechungen im Kino handeln genau davon — das Biest muss sterben, erst dann ist die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt, kann das Leben seinen gewohnten Gang nehmen.

Alles beginnt mit einem Feuer — gleich zu Beginn und dann einige weitere Male folgt die Kamera einem Löschzug der Feuerwehr in einer namenlosen, an einem See gelegenen Stadt in Japan zu einem nächtlichen Einsatz. Ein Hochhaus steht lichterloh in Flammen, später wird man erfahren, dass sich in dem Haus unter anderem ein Hostessenclub befand — und dessen Existenz ist wohl ursächlich für den Brandanschlag, der die Katastrophe ausgelöst hat. Immer wieder streut der Film Hinweise auf Verdächtige ein, die für die Brandstiftung verantwortlich sein könnten, doch dieses Geheimnis ist nur eines von vielen, das das kluge Drehbuch beinahe beiläufig streift. Und so ist es am Ende trotz der zentralen Bedeutung, die der Brand als Dreh- und Angelpunkt einnimmt, eben auch ein wenig egal, wer dafür verantwortlich ist.

Im Zentrum des Films stehen (zumindest im ersten Teil des Films) der heranwachsende Minato (Soya Kurokawa) und dessen alleinerziehende Mutter Saori (Sakura Ando). Seit dem Tod des Vaters vor einiger Zeit sind die beiden eine fest eingeschworene Gemeinschaft, doch nun hängen sich die Anzeichen einer beginnenden Entfremdung zwischen Mutter und Sohn. Das erratische Verhalten des Jungen gibt Saori Rätsel auf, bis sie schließlich herausbekommt, dass es in der Schule Probleme mit einem Lehrer namens Herr Hori (Eita Nagayama) gibt, der Minato körperlich angegriffen haben soll. Erbost sucht sie den Kontakt zur Schule, doch dort kommt sie bis auf eine bizarre Entschuldigungsorgie nicht wirklich weiter. Und ihre Sorgen werden nicht weniger, als sich andeutet, dass Minato kein unschuldiges Opfer sein soll, sondern vielmehr offensichtlich ein übler Bully ist, der einen Mitschüler quälen und drangsalieren soll. Doch ist es wirklich so? Warum verhalten sich in dieser Geschichte wirklich alle Beteiligten so seltsam? Und warum ist das Band zwischen Minato und dem vorgeblichen Mobbing-Opfer Eri (Hinata Hiiragi) so eng und liebevoll?

Im Verlauf der Geschichte, die immer wieder zu dem Brand als Ausgangspunkt und Epizentrum zurückkehrt, um von dort aus eine neue Perspektive einzunehmen und neue Informationen hinzuzufügen, spielt der Film nicht nur mit seinen Figuren, sondern auch mit den Erwartungen des Publikums, das allzu bereitwillig jeder (falschen) Fährte folgt und ein ums andere Mal wie die Personen dieses Panoramas feststellen muss, dass die eigenen Annahmen und Vorverurteilungen in eine falsche Richtung geführt haben, dass jede der Figuren ihre guten Gründe hatte, genau so zu handeln, ja gar nicht anders konnte. Erst wenn das Gesamtbild sichtbar ist, kann man sich (wenn überhaupt) ein Urteil erlauben — in Zeiten sich zuspitzender und immer schriller werdender Debatten im öffentlichen Raum wie in den sozialen Medien ist dies eine Botschaft, der wir mehr Beachtung schenken sollten, wenn der nächste Shitstorm rollt, die nächste Kampagne gefahren wird.

Zum  ersten Mal seit Mitte der 1990er Jahre hat Hirokazu Koreeda nun wieder ein Drehbuch verfilmt, das nicht aus seiner eigenen Feder stammt, sondern von Yuji Sakamoto. Und genau das tut dem Film unfassbar gut. Meint man zu Beginn, dass der Regisseur sich wieder einmal seinem bevorzugten Thema von (Wahl-)Verwandtschaftsverhältnissen widmet, wird schnell klar, dass sich sein Blick dieses Mal weitet. Zwar spielen nach wie vor Blutsbande eine Rolle, zugleich aber ist Monster auch ein Film über Freundschaft, über vermeintliche und tatsächliche Herrschaftsverhältnisse, über gesellschaftliche Fragen wie der Benachteiligung und Stigmatisierung alleinerziehender Mütter und vieles andere mehr.

Dass der Film angesichts der vielen Perspektiven und Themen dennoch nicht ausfranst und in seine Einzelteile zerfällt, liegt zum einen am wundervoll gebauten Drehbuch, zugleich aber auch an Koreedas souverän-eleganter Regie und einem hervorragenden Cast, bei dem wirkliche jede/r der Darsteller*innen und jedes Gewerk von der Kamera über das Szenenbild und den pointierten Schnitt bis zur punktgenau eingesetzten Musik überzeugt und begeistert. Monster ist ein Meisterwerk, mit dem der japanische Filmemacher sein Repertoire um gänzlich neue Facetten erweitert.

Die Unschuld (2023)

Saori Mugino ist eine junge Witwe und Mutter. Ihre ganze Liebe gehört ihrem Sohn Minato. Als sich der Junge mehr und mehr zurückzuziehen beginnt, spürt sie, dass etwas nicht stimmen kann. Mit Entsetzen erfährt Saori, dass Minatos Lehrer Schuld sein soll an seinem merkwürdigen Verhalten. Aufgebracht stürmt sie in die Schule, verlangt Antworten. Sie spürt, dass man sie hinhält, ihr nicht die ganze Wahrheit sagt. Doch sie lässt nicht locker und will der Sache auf den Grund gehen. Bis nach und nach offenbar wird, was wirklich geschah. Es verändert das Leben aller Beteiligten für immer…

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