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In seinem neuen Werk „Mi Pais Imaginario – Das Land meiner Träume“ stellt Patricio Guzmán abermals kluge Verknüpfungen zwischen der Vergangenheit und Gegenwart Chiles her.

Mi país imaginario - Das Land meiner Träume (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

(Kein) Zurück

Der 1941 in Santiago de Chile geborene Patricio Guzmán musste 1973 aus Chile nach Spanien fliehen und lebt heute in Frankreich. Etliche Jahre nach seiner Flucht kehrte er dann jedoch immer wieder zurück, etwa um ein Dokumentarfilmfestival in seiner Heimatstadt zu gründen und zu leiten. Im Laufe seiner Karriere hat sich Guzmán als überaus empathischer, differenzierter Beobachter und kinematografischer Analyst der Geografie und Geschichte Chiles erwiesen. So schuf er mit „Heimweh nach den Sternen“ (2010), „Der Perlmuttknopf“ (2015) und „Die Kordillere der Träume“ (2019) eine (zweite) persönlich erzählte Trilogie über sein Geburtsland.

Stets verbindet Guzmán dabei eine dokumentarische Betrachtung mit essayistischen Elementen – indem er zum Beispiel die Bilder des chilenischen Hochgebirges mit Aufnahmen kombiniert, in denen die gesellschaftspolitischen Ereignisse zwischen 1973 und 1990, die Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet, eingefangen werden. Persönliche Gedanken des Regisseurs gehen derweil mit kollektiven Erfahrungen einher.

Auch Mi Pais Imaginario – Das Land meiner Träume ist ein Werk, das ganz eindeutig Guzmáns Handschrift trägt. Es zeigt die Revolution in Chile, die im Oktober 2019 ihren Anfang nahm. Der Funke des sozialen Aufstandes entzündete sich an einer Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr um 30 Pesos. Schüler:innen sprangen daraufhin über die Drehkreuze der Metro und riefen zum Schwarzfahren auf. Zwar nahm die Regierung die Maßnahme zurück, aber die Revolte ließ sich nicht mehr aufhalten: Millionen Menschen solidarisierten sich und gingen auf die Straße, um für mehr Demokratie, für Bildungsgleichheit und für ein besseres Gesundheitssystem für alle zu demonstrieren. „Chile hatte sein Gedächtnis wiedergefunden“, schreibt Guzmán in einem Regiestatement.

Der Film bietet Aufnahmen von Protesten sowie Interviews mit Aktivist:innen. Zudem dokumentiert er, wie die Regierung rigoros mit militärischen Mitteln gegen einen sozialen Konflikt vorging. Insgesamt gab es Tausende Verletzte und 32 Tote. Hier arbeitet Guzmán erneut die Verbindungen zu damals heraus. Während der Militärdiktatur unter Pinochet wurden zahllose Menschen verschleppt, gefangen genommen, gefoltert und getötet. Demonstrationen endeten immer wieder in staatlicher Gewalt und führten dazu, dass Demonstrierende nach ihrer Festnahme als vermisst galten. Diese jahrzehntelange Repression hat ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Zugleich ist Guzmán dabei, wie Geschichte geschrieben wurde: Das chilenische Volk stimmte über eine neue Verfassung ab. Ein neuer Präsident – der linksgerichtete Gabriel Boric – wurde mit 56 Prozent der Stimmen gewählt und damit zum jüngsten Amtsinhaber in der Historie des Landes.

„Die Revolte hat mir Kraft gegeben“, heißt es in einem der Interviews. Mi Pais Imaginario vermittelt nicht zuletzt die Hoffnung, die durch den Volksaufstand und dessen Konsequenzen entstanden ist. „Es gibt kein Zurück in diesem Land“, lautet eine Feststellung. Wie es dazu kommen konnte, fängt wiederum Guzmáns Blick zurück treffend ein – um sich fortan ganz auf die Zukunft konzentrieren zu können.

Mi país imaginario - Das Land meiner Träume (2022)

Im Oktober 2019 führte die Erhöhung der Metropreise in Santiago de Chile zu heftigen sozialen Protesten. Über eine Million Menschen demonstrierten für ein gerechteres Bildungs- und Gesundheitssystem und eine neue Verfassung. An vorderster Stelle: Die Frauen. Der Filmemacher Patricio Guzmán liefert ein erfrischendes Zeitdokument, das fesselt und unter die Haut geht. Mit engagierten Essays von La batalla de Chile bis zu Nostalgia de la luz hat sich Patricio Guzmán längst einen Namen gemacht und die Traumata der Diktatur in seiner Heimat filmisch verarbeitet. Doch als 2019 in Santiago de Chile 1.5 Millionen Menschen mit demokratischen Forderungen auf die Strasse gehen, kommt das selbst für ihn überraschend — er hat nicht mit dieser Form von kollektivem Aktivismus gerechnet. Was Guzmán uns mit „Mi país imaginario“ vorlegt ist denn auch weniger Erinnerung — es ist Aufbruch und Hoffnung. Der Film ist angesiedelt zwischen Reportage und Reflexion. Letzteres trägt die Handschrift des Altmeisters und macht den Film enorm bereichernd, Ersteres macht ihn zu einem der direktesten in seinem Werk. Im Orchester aus Kochtöpfen, Steinen und Sprechchören erklingen die Frauen besonders laut. Bilder und Erlebnisse des Schweizer Frauenstreiks kommen hoch, Farben, Parolen und Forderungen überschneiden sich. Die Proteste zeigen die Mobilisierungskraft der Frauen, es kommt zur Uraufführung des Protestsongs gegen Gewalt an Frauen, der darauf um die Welt gehen sollte: «El violador eres tú! — der Vergewaltiger bist du!» Ob in Madrid, Melbourne, Lausanne, Istanbul oder Caracas, der Song fand weltweit Nachahmerinnen. Mögen ihre Parolen noch lange nachhallen und Veränderungen bewirken. (Quelle: Verleih)

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