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Idyllisch in den bulgarischen Bergen gelegen, scheint das Dorf, um das es in diesem Dokumentarfilm geht, den Anschluss an die moderne Welt verloren zu haben. Die jungen Leute sind fort, wer geblieben ist, muss sich an wachsende Einsamkeit gewöhnen. Doch das karge, naturnahe Leben hat seine Reize.

Bürgermeister, Schäfer, Witwe, Drache (2021)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Wer noch im Dorf geblieben ist

Im bulgarischen Bergdorf Pirin erzählt man sich die Sage vom Drachen, der einst in der Nähe wohnte. Er entführte schöne junge Frauen und Mädchen. Heute leben im Dorf nur noch alte Frauen, die jungen haben es längst verlassen. Aber das liegt nicht am Drachen, sondern am Wandel der Zeit. Männer wie der Bürgermeister Georgi, die geblieben sind, obwohl sie das Rentenalter noch nicht erreicht haben, leben meist unfreiwillig als Junggesellen. Die Bewohnerinnen und Bewohner reden oft vom Aussterben des Dorfes. Aber manchmal wird auch noch laut geträumt von einer Zukunft als Touristenattraktion, wegen einer Quelle, die im Winter warm ist. Und es gibt die Feste im Jahreslauf, auf denen die alten Frauen in ihren bunten Trachten singen und die betagten Männer auf der Bank sitzen und zuschauen.

Die deutsch-bulgarische Regisseurin Eliza Petkova (Ein Fisch, der auf dem Rücken schwimmt) hat einem bulgarischen Dorf, das wie so viele der Landflucht zum Opfer fällt, mit diesem bezaubernden Dokumentarfilm ein Denkmal gesetzt. Er bekam auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis 2022 den Preis der Filmkritik. In stillen Beobachtungen fangen Petkova und ihre Kamerafrau Constanze Schmitt Eindrücke einer Lebensweise ein, die völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Der karge Alltag der bäuerlichen Selbstversorger*innen kennt wenig Komfort. Abends sitzen die Menschen in ihren oft baufälligen Häuschen, wärmen sich am Holzofen und suchen beim Fernsehen oder auf dem Handy den Kontakt zur großen weiten Welt.

„Wieso haben sie die Werbung erfunden?“, fragt vor dem Fernseher die immer schwarz gekleidete Witwe Maria ihren Sohn, dessen Haar auch schon ergraut. Der Bürgermeister, der in der Amtsstube auf einer mechanischen Schreibmaschine tippen muss, schaut in der Freizeit oft auf sein Handy. Er habe auf Facebook eine Frau kennengelernt, erzählt er einem anderen Dorfbewohner stolz. Der Schäfer Iliya setzt sich am Waldrand eines Abends zu seinen Schafen ins Gehege, um eine Zigarette zu rauchen. Zum Einschlafen brauche er immer seinen Schnaps, sagt er. Wie beiläufig schaut sich die Kamera im Dorf um und landet immer wieder bei diesen drei Protagonisten. Sie erhalten in der scheinbar ungeordneten Reihung vieler filmischer Einzelmomente allmählich biografische Konturen. 

Dass vieles offen gelassen wird und die Porträtierten niemals vor der Kamera Fragen beantworten müssen, vermittelt dem Publikum den Eindruck, an einer Entdeckungstour teilzunehmen. Wenn der Bürgermeister mit einer Nachbarin beim Essen über seine Vergangenheit spricht, filmt die Kamera durch die offene Zimmertür hinein. Sie stört die private Atmosphäre nicht durch allzu große Nähe, sondern vermittelt sie aus der Position hinter dem Türrahmen umso eindrucksvoller. In ihren Dialogen untereinander geben die Menschen ganz ungezwungen viel von ihrer Mentalität, ihren Sorgen und Wünschen preis. Maria hätte so gern Enkelkinder. In der Beziehung zu ihrem Sohn gibt es wohl viel Schweigen, aber auch in kurzen Dialogen lassen sich unaufdringliche Zuneigung und gegenseitiger Respekt vernehmen. Die Menschen kümmern sich um andere, rücken sich dabei aber nicht auf die Pelle. Maria kocht einer Greisin, die ihr Haus nicht mehr verlässt, Suppe. Der Bürgermeister misst einem Dorfbewohner den Blutdruck. Beim Zuschauen entsteht der Eindruck einer auf sich selbst zurückgeworfenen, lockeren Dorfgemeinschaft, die sich auch mit kleinen Gesten Wärme spendet.

Selbst aus den kürzesten Szenen spricht eine wohltuende Ruhe, wirken die Protagonisten ganz bei sich und dadurch sehr präsent. Mit ihrer Melancholie, ihrem Humor und ihrer mehr oder minder gelassenen Art, ihr Schicksal zu tragen, wachsen sie einem ans Herz. Die Beobachtungen wirken nie verkitscht und nehmen gerne auch Witziges wahr, etwa die verblichene Europafahne, die der Bürgermeister über seine Steinmauer hängt. Mit den oft statischen Einstellungen oder den langsamen Kamerabewegungen erforscht der Film die Atmosphäre auch in der Umgebung. Ein Esel ruht auf einem zementierten Platz, eine Katze putzt sich auf der Straße, die Hänge färben sich im Herbst bunt, die Bergketten liegen im Dunst eines sonnigen Tages. 

Wenn die Dorfbewohner*innen in Voice-over vom Drachen und seinen Opfern erzählen, blickt die Kamera in die endlos und unerschlossen wirkende Waldlandschaft mit den wabernden Nebelwolken. So erhält die Sage, die von den Menschen mit abergläubisch interpretierten Ereignissen aus der dörflichen Geschichte gefüttert wird, eine poetische Kraft. Die Fantasie des Publikums wird auf die Reise geschickt, hin zu Überlegungen, ob das Dorf mehr die Natur oder die moderne Welt fürchten muss. Die Tage, in denen es sich hier draußen als Posten der Zivilisation behaupten und seine Kultur entfalten konnte, gehen wohl zur Neige. Aber dieser wohltuend entschleunigte Film zeigt, wie viel Leben noch an diesem Ort zu finden ist.

Bürgermeister, Schäfer, Witwe, Drache (2021)

In dem bulgarischen Bergdorf Pirin geht die Sage um, dass ein Drache namens Gincho für das Verschwinden der jungen Frauen verantwortlich sein soll. Fast nur Alte leben noch in dem Ort ohne Arzt und Priester, dessen viele leerstehende Häuser allmählich von der Natur verschluckt werden. Doch der umtriebige Bürgermeister hat den Glauben an die Zukunft nicht aufgegeben. Er möchte Pirin in eine touristische Attraktion verwandeln – und versucht nebenbei, im Internet eine Frau zu finden. (Quelle: Filmfestival Max Ophüls Preis 2022)

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