Man on Wire – Der Drahtseilakt

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der Mann, der nach den Wolken griff

Wer am Morgen des 7. August 1974 in den Straßen New Yorks unterwegs war, konnte rund um das World Trade Center eine seltsame Entdeckung machen. Überall standen inmitten des sonst irrwitzigen Treibens Menschen mit nach oben gerecktem Kopf herum, die gebannt und fassungslos gen Himmel starrten. Und wer nun den Blicken der Passanten folgte, entdeckte hoch droben am Himmel ein Schauspiel der ungeheuerlichen Art. Denn zwischen den beiden erst ein Jahr zuvor fertig gestellten Türmen des World Trade Center spazierte ein Mann in luftiger Höhe mit einer Balancestange über ein Drahtseil – und zwar ohne Netz, doppelten Boden oder irgendwelche sichtbaren Sicherungen. Wie war das möglich? Hatte man sich getäuscht oder konnte das wirklich sein?
Die Erscheinung am Himmel über Manhattan war keine Täuschung, sondern der wahrscheinlich gewagteste und spektakulärste Akt in der Geschichte der Drahtseilartistik. Philippe Petit, der Mann, der da in 417 Metern Höhe zwischen den beiden Türmen spazierte, hatte sich sechs Jahre lang auf diesen Coup vorbereitet, seitdem er im Wartezimmer seines Zahnarztes einen ersten Bericht über die damals gerade begonnen Zwillingstürme gelesen hatte. Seit diesem Moment kannte der 1949 geborene Franzose kein anderes Ziel mehr, als diese beiden Türme und den Raum zwischen ihnen in schwindelnder Höhe zu überwinden. Denn die Zwillingstürme schienen extra für ihn gemacht worden zu sein.

Was dieser Initialzündung folgte, war eine Vorbereitungszeit auf den Drahtseilakt, die in vielem der Planung eines Gaunerstücks glich – zumal Petit bekennt, voller krimineller Energie zu stecken. Die war im Falle seines Meisterstücks aber auch bitter nötig. Denn es war allen Beteiligten an dieser Aktion von Anfang an klar, dass man niemals eine offizielle Genehmigung für den Spaziergang in der Luft erhalten würde, so dass die logistische Durchführung noch um einiges erschwert wurde.

Der Regisseur James Marsh hat aus diesem unglaublichen, beinahe übermenschlichen Akt einen sehr sehenswerten Dokumentarfilm geformt, der die Aktion Petits minutiös nachzeichnet und den Zuschauer so mitnimmt auf eine faszinierende Zeitreise, deren Magie und Größe man sich nicht entziehen kann und bei der nur ab und an die etwas zu pathetische Filmmusik von Michael Nyman stört. Dabei hat allein die Geschichte und ihre gefällige Umsetzung so viel Nervenkitzel und Grandiosität zu bieten, dass man ruhig auf eine bedächtigere musikalische Untermalung hätte setzen können.

Selbst die Polizisten, die den Hochseilartisten nach seinem achtmaligen Überqueren des Seils verhaften, waren so ergriffen von Wagemut und der Schönheit von Petits Tanz in luftiger Höhe, dass ihnen beinahe die Tränen gekommen wären. Und weil niemand zunächst genau wusste, welchen Vergehens Petit sich eigentlich schuldig gemacht hatten, schrieben die Cops als Verhaftungsgrund jene schlichten Worte in das Protokoll, die dem Film seinen Titel gaben  — „Man on Wire“. Manche Dinge – und oft sind es die wirklich großen und erhabenen Momente – lassen sich eben ganz einfach und mit wenigen Worten beschreiben. To Reach the Clouds nannte Philippe Petit seine Erinnerungen, die er im Jahre 2002 veröffentlichte. Doch To Reach the Stars wäre ebenfalls ein angemessener Titel gewesen, wenn man die Kühnheit der Planung und die vielen Widrigkeiten bei der Ausführung des Kunststücks bedenkt.

Was in Man on Wire – Der Drahtseilakt nicht erwähnt wird, im Kopf des Zuschauers aber stets mitschwingt, ist das Ende der Twin Towers durch die Anschläge am 11. September 2001 und das Bewusstsein, dass Philippe Petits Tat am Morgen des 7. August 1974 für alle Zeiten einzigartig bleiben wird, dass sie nicht wiederholbar ist. Und allein schon deswegen leistet dieser Film genau das, was man von einem Dokumentarfilm erwarten sollte: Er erinnert, dokumentiert und hält das fest, was durch den Lauf der Zeit in Vergessenheit zu geraten droht. Und er zeigt, welche unglaubliche Leistungen Menschen vollbringen können, die von einer Idee besessen sind. Die Zwillingstürme haben die Menschen seit ihrem Bestehen eben schon immer fasziniert und magisch angezogen – im Guten wie in diesem Falle genauso wie im abgrundtief Bösen des 9/11-Terrors. Spannender kann dokumentarisches Kino kaum sein.

James Marshs Film wurde bislang auf zahlreichen Festivals gezeigt und hat bereits einige Auszeichnungen erhalten: So konnte Man on Wire – Der Drahtseilakt / Man on Wire bereits beim Los Angeles Filmfestival, in Edinburgh und in Sundance (dort gab es zudem den Grand Jury Prize) den Publikumspreis erringen, in Karlovy Vary gab es zudem die Auszeichnung als bester Dokumentarfilm.

Man on Wire – Der Drahtseilakt

Wer am Morgen des 7. August 1974 in den Straßen New Yorks unterwegs war, konnte rund um das World Trade Center eine seltsame Entdeckung machen.
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Meinungen

Filmgenießer · 09.02.2009

Dieser Film ist unglaublich gut: er ist spannend, witzig, romantisch und sehr kunstvoll gedreht. Einer der besten Filme, die ich je gesehen habe. Unbedingt ansehen.