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Viele deutsche Städte wurden während des Zweiten Weltkriegs im Zuge apokalyptischer Flächenbombardements dem Erdboden gleichgemacht. War das auf alliierter Seite moralisch vertretbar? Sergei Loznitsas eigenwilliges Filmessay bohrt tief in einem unbewältigten Trauma der deutschen Zeitgeschichte. 

Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung (2022)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Mensch, Materie!

„Kinder, ich habe euch aus dem Bett geholt. Schaut, hier brennt Rosenheim“, soll Werner Herzogs Mutter Elisabeth eines Nachts in Sachrang zu ihren Söhnen gesagt haben. So hat es der später weltberühmte Chiemgauer viele Male Journalisten erzählt und jüngst auch in seinen fabulierfreudigen Memorien niedergeschrieben. Der in München geborene Ausnahmeregisseur, Jahrgang 1942, war selbst ein ausgebombtes Kind, das fern der damaligen „Hauptstadt der Bewegung“ aufwuchs und erst in der Nachkriegszeit in eine nicht minder berühmte Pension am Schwabinger Elisabethmarkt zurückkehrte. Über die Hälfte der ehemaligen Residenzstadt und sogar 90 % der geschichtsträchtigen Altstadt waren da durch die Fliegerverbände der britischen Royal Air Force (RAF) sowie der United States Army Air Forces (USAAF) im Bombenhagel zerstört worden. 

Der brutale Luftkrieg über Nazi-Deutschland gehört bis in die Gegenwart zu den Urtraumata der Deutschen und beschäftigt weiterhin Generationen von Historikern, Intellektuellen und Literaten. Der gerade im anglophilen Ausland nach wie vor hochgefeierte Schriftsteller („Austerlitz“) und Literaturwissenschaftler („Luftkrieg und Literatur“) W.G. Sebald (1944-2001) gehörte beispielsweise Ende der 1990er Jahre zu den wirkungsmächtigsten Diskursmachern der Bundesrepublik, weil er sich in seinen vielschichtigen Meta-Texten mit eben jenem inhumanen Bombenterror genauso wie mit der unbegreiflichen Massenvernichtung im Krieg und im Holocaust ebenso intensiv wie öffentlichkeitswirksam beschäftigte. 

In der Rolle des Sehers und Propheten (oder Scharlatans oder Geisterbeschwörers?) gefällt sich auch der hochdekorierte ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa, der mit seiner Familie seit 2001 im deutschen Exil lebt. Er ist ein streitbarer, jedoch höchst bemerkenswerter Regisseur und ein Spezialist für Filme übers Filmemachen, für den die Trennlinien zwischen Fakten und Fiktion in Analogie zu Werner Herzog alles andere als trennscharf sind. In seinem neuesten essayistischen Historien-Husarenstück Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung setzt er sich nach Austerlitz erneut mit einer Sebald-Vorlage wie mit einem Tabuthema auseinander, was zwangsläufig vielerlei intellektuelle Reibungsflächen generiert. 

Um plumpen, gar gefährlichen Geschichtsrevisionismus geht es Loznitsa auch dieses Mal keinesfalls. Seine Stärke als ausgesprochen denkfreudiger Filmemacher besteht gerade darin, wiederholt unangenehme Fragen zu stellen und tief in die schwarzen Löchern der sowjetischen wie der NS-Geschichte zu blicken – mit ungewissem Ausgang. Konkret formuliert: Inwieweit ließen sich die massenhaften Flächenbombardements auf die deutsche Zivilbevölkerung mit dem ethisch-moralischen Wertekorsett der Alliierten in Einklang bringen? Schließlich fanden in diesem Flammeninferno alleine in den 50 größten Städten über eine halbe Million Zivilisten den Feuertod. 

Hierfür konnte Loznitsa auf noch nie gesehenes Bewegtbildmaterial aus den bedeutendsten Archiven der Welt zugreifen. Allein das macht Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung sehenswert – und das nicht nur für Historiker. Die ersten Minuten präsentieren ein selten gezeigtes NS-Deutschland mit wenigen Hakenkreuzfahnen, das voller Vorkriegsidylle und Fachwerksliebelei steckt. Die darin präsentierten Menschen sehen, das könnte allerdings Propagandatechnik sein, höchst zufrieden aus.

Ehe hyperrealistisch verfremdete und mutig montierte nächtliche Angriffspassage demonstriert dann das Ausmaß der gigantischen Zerstörung von Mensch und Material, bis einem selbst das Herz pocht und die Augen tränen angesichts der präsentierten Endzeitlandschaften: Tote Menschen, tote Tiere. Kaputte Menschen, kaputte Straßenzüge. Fliehende Menschen, immer noch fliegende Bomberpiloten auf beiden Seiten der Kriegsmaschinerie: Sozusagen bis zum absoluten Untergang. 

Unwirklich nah fühlt man sich danach den leidgeplagten Zivilisten in der Ukraine wie in Syrien. Dadurch entsteht eine zeitlos aktuelle Reflexion über Recht und Unrecht, Schuld und Sühne und selbstverständlich Täter und Opfer. Gestorben wird naturgemäß immer und überall, erst recht, wenn dort Krieg herrscht. Nur wie und vor allem: warum? (Loznitsas) Fortsetzung folgt (bestimmt). 

Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung (2022)

„Die Naturgeschichte der Zerstörung“ ist der dritte Film von Sergei Loznitsa, der sich mit der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Erinnerung an die größten Tragödien dieser Zeit befasst – inspiriert von W.G. Sebalds Text „Luftkrieg und Literatur“. Sebald beschreibt hier das Phänomen der Massenvernichtung der deutschen Zivilbevölkerung und der deutschen Städte durch die massiven Luftangriffe der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs.

Loznitsas Film versucht auf der Basis erhalten gebliebener Filmaufnahmen eine Vorstellung vom Ausmaß der Zerstörung der deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg zu gewinnen und regt zum Nachdenken an über das Trauma und das Schweigen, welches mit dieser Zerstörung verbunden ist. (Quelle: German Films)

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