Lucy (2014)

Eine Filmkritik von Gregor Torinus

Count-up für das Partygirl

„Wir nutzen nur zehn Prozent unseres geistigen Potenzials“ — wie oft hat man diesen Satz schon einmal gehört oder irgendwo gelesen? Der Satz wird ja gerne Albert Einstein zugeschrieben, allerdings bestreiten Experten, die sich mit dem Leben des Physikers auskennen, dass jener diese Worte jemals ausgesprochen hat. Weil es aber so griffig klingt und die Dummheiten und Dusseligkeiten dieser Welt so gut auf einen schlüssigen Nenner bringt, haben ihn sich nicht nur die Scientologen auf die Fahnen geschrieben, sondern auch Luc Besson, der auf dieser dünnen und selbst von Hirnforschern heftig bestrittenen Hypothese seinen neuen Film aufgebaut hat.

Wer nun allerdings meint, aufgrund dieser wissenschaftlich zweifelhaften Prämisse den ganzen Film in die Tonne treten zu müssen, ignoriert zweierlei: Zum einen müsste man mit einer solchen Herangehensweise geschätzte 80 Prozent der Filmgeschichte und ca. 95 Prozent des derzeitigen Ausstoßes auf die Kinoleinwände dem ewigen Vergessen überantworten. Denn Kino ist auch (und manchmal sogar im besten Fall) Magie, ein Spiel mit Grundannahmen, verführerischen oder erschreckenden Varianten, eine Feier des Unwahren, Konstruierten und Fiktionalen. Und zweitens macht Luc Bessons Lucy – wenn man die Einstein’sche Kröte mal geschluckt hat — einfach verdammt viel Spaß.

Als dramaturgischer Schrittmacher mit eingebautem Turbo fungiert dabei ein umgekehrter Countdown. Statt wie weiland bei Fritz Lang (der diese Zählweise ja für seinen Film Frau im Mond aus dem Jahre 1929 erfunden hat) bei Null zu enden, strebt die Titelheldin dem Ende zu, wenn sie bei 100 angelangt ist. Wobei man fairerweise sagen muss, dass diese von Scarlett Johansson gespielte Lucy nicht bei Null startet, sondern (wie wir alle) bei zehn Prozent. Vielleicht sogar bei 9,9. Denn so, wie diese Lucy zu Beginn des Films durch Taipeh stolpert, noch sichtlich gezeichnet von der letzten langen Partynacht, kann man schon auf den Gedanken kommen, dass der Alkohol und sonstige Ingredienzien einige Gehirnzellen weggeknabbert haben. Womöglich liegt es ja an ihrem desolaten Zustand, dass sie sich von einem recht dreisten Bekannten übertölpeln lässt, einen Koffer mit unbekanntem Inhalt einigen obskuren „Geschäftsleuten“ in einem Hotel zu überbringen – klar, dass sie danach erst so richtig im Schlamassel steckt. In dem Koffer befindet sich nämlich eine neue synthetische Wunderdroge namens CPH4 und die muss möglichst unauffällig nach Europa gebracht werden, weshalb die Männer um Mr. Jang (Choi Min-sik) die Überbringerin gleich als interkontinentale Kurierin zwangsrekrutieren und ihr den Stoff in die Bauchhöhle einnähen. Weil aber ihre Bewacher es mit der sorgsamen Pflege ihrer Schutzbefohlenen nicht so ernst nehmen, platzt der Beutel mit der blauen kristallinen Substanz und setzt eine fatale Kettenreaktion in Gange. Denn CPH4, das einem körpereigenen Hormon nachempfunden ist, bewirkt, dass nun schrittweise die restlichen 90 Prozent (bzw. 90,1) aktiviert werden – und damit strebt diese Lucy auf einen gottgleichen Zustand zu, den nie zuvor ein Mensch vor ihr je erreicht hat. Klar, dass sie mit diesen sich nach und nach entfaltenden Superkräften (inklusive Telepathien und Telekinese) ihren Häschern entkommen kann, die aber natürlich nicht locker lassen und die Spur der Flüchtigen aufnehmen. Die ist indes bei ihren Recherchen auf den Neurowissenschaftler Professor Norman (Morgan Freeman) gestoßen, der gerade für einen Vortrag in Paris weilt und der wahrscheinlich der einzige Mensch ist, der ihr noch helfen kann. Es beginnt eine atemlose Jagd und ein Wettlauf gegen die Zeit, gegen den Fluch der 100 Prozent.

Bereits der Auftakt zu Luc Bessons neuem Film ist eine Meisterleistung in erzählerischer Ökonomie: Wenige Pinselstriche genügen, die zukünftige Heldin als „female drifter“ zu kennzeichnen, bei der zu Beginn nichts, aber auch gar nichts drauf hindeutet, dass sie einmal zur übermenschlichen Superheldin aufsteigen wird, zur Quasi-Gottheit. Scarlett Johansson als Wesen höchster Weisheit – auf die Idee musste erstmal einer kommen. Obwohl sich der Film anfangs in zwei parallele und rhythmisch gegenläufige Erzählstränge aufspaltet, die am Ende immer weiter aufeinander zulaufen, wirkt hier dennoch fast alles wie aus einem Guss. Hier verbinden sich Action und Kontemplation, Science Fiction und (manchmal etwas banale) Philosophie, Rasanz und Stillstand, Körperlichkeit und Geistwerdung zu einer streckenweise faszinierenden Mixtur, die munter Kubrick (an dieser Stelle hört man bereits den Chor der Kritiker, die da rufen „Sakrileg!“ und „Welch Vermessenheit!“), die Wachowskis und vor allem ausgiebigst sich selbst zitiert.

Zwischendrin flicht Besson Naturbetrachtungen ein, die so wirken, als habe der Discovery Channel den cineastischen Pantheisten Terrence Malick damit beauftragt, Clips zu erstellen, die die Bedeutung des Lebens illustrieren. Gottlob aber – und sicher ist dies auch dem atemlosen Rhythmus des Films geschuldet, unterlässt es der Franzose dabei die epische Breite und Behäbigkeit des Amerikaners zu kopieren. Dennoch herrscht in diesen Passagen, die samt und sonders Morgan Freeman zugeordnet sind, ein in manchen Momenten fast unangenehm belehrender Tonfall vor, der aber zumeist prompt von der nächsten Actionszene in die Schranken verwiesen wird. Ein wenig ist Lucy (gemeint ist hier der Film und nicht dessen Protagonistin) selbst wie ein Drogenrausch geraten: Nicht unbedingt den Gesetzen der Logik folgend, besitzt der rasende Ablauf eine Sogwirkung, der man sich zumindest für die Dauer des Films nicht entziehen kann. Erst danach dämmern einem die Unlogiken des Films, seine Manierismen, sein Pathos, sein dröhnendes Posertum – und das kommt fast schon einem veritablen Kater nahe, einem „cold turkey“: In der Hitze des Moments, im Traumraum des Kinos ist man gerne bereit, sich auf diesen irren Trip mit all seiner eigenen, verqueren Kohärenz einzulassen.

Die Ernüchterung kommt früh, schnell und hart genug. Aber so ist das Kino eben auch. Gemessen daran ist Lucy nicht unbedingt der schlaueste Film — aber eben doch ein verdammt faszinierender.

(Joachim Kurz)
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Wie bereits Aristoteles sagte, darf man nicht alles glauben, das im Internet als die Weisheit einer berühmten Persönlichkeit präsentiert wird. Noch aus Vor-Internet-Zeiten stammt die Einstein zugeschriebene Feststellung, dass wir nur 10% unseres Gehirns nutzen. Nur war Einstein kein Hirnforscher, sondern ein Physiker der ganz humorlos sagte „Gott spielt nicht“ und zweitens haben die Hirnforscher auch noch heute keinen Schimmer, wie eigentlich das Bewusstsein ins Hirn hineingelangt. Dieses Unwissen auch noch in Prozenten anzugeben wäre dann doch ein wenig übertrieben.

Frankreichs fantasievoller Filmemacher Luc Besson ist hingegen in Sachen Logik vollkommen schmerzfrei. Der Liebhaber starker Frauenfiguren und unwahrscheinlicher Geschichten schuf mit der Ein-Frau-Armee Nikita 1990 den Prototypen aller fast übermenschlichen Kämpferinnen. 1997 überschritt Besson diese Schwelle mit Das fünfte Element. Seine neue Heldin war nur noch ihrem Aussehen nach human, in Wahrheit jedoch ein futuristisch-mystisches Wunderding. Die Story war zwar blanker Unsinn, aber aufgrund der sehr irdisch daherkommenden Protagonisten selbstironisch genug, dass man den Film einfach als extrem überdrehtes Pop-Spektakel genießen konnte. Jetzt setzt der verrückte Franzose zum nächsten filmischen Evolutionssprung an. Der gleiche Unterschied auf der Normalitätsskala, der zwischen Nikita und Das fünfte Element besteht, besteht auch zwischen Das fünfte Element und Lucy:

Das amerikanische Partygirl Lucy (Scarlett Johansson) studiert in Taiwan. Nach einer durchfeierten Nacht trifft sie auf ihren zwielichtigen Bekannten Richard (Pilou Asbaek). Ehe Lucy sich versieht, hat der mit einer Handfessel einen silbernen Koffer mit dubiosem Inhalt an ihrem Arm fixiert. Nun muss Lucy gegen ihren Willen diesen Koffer an Mr. Jang (Choi Min-sik) übergeben, da nur dieser den Schlüssel zu ihrer Handschelle besitzt. Es stellt sich heraus, dass sich in diesem Koffer vier Plastiktüten mit blau glitzernden Kristallen befinden. Bei der Substanz handelt es sich um synthetisches CPH4, ein Stoff, der in winzigen Mengen im Mutterleib produziert wird und einen enormen Entwicklungsschub bei dem Ungeborenen initiiert. In stärkerer Dosierung wirkt CPH4 als euphorisierende Droge, die der neue Hit in Europas Partyszene werden soll. Mr. Jang lässt Lucy und drei weiteren unfreiwilligen Kurieren einen Beutel der Substanz in ihre Bauchdecke einnähen. Aufgrund eines Fehltritts einer seiner Mitarbeiter, reißt Lucys Beutel ein und eine tödliche Überdosis der Substanz entweicht. Als Nebenwirkung werden in den ihr noch verbleibenden 24 Stunden bei Lucy nach und nach die 90% brachliegender geistiger Kapazität aktiviert…

… Was das bedeutet, mag sich noch nicht einmal der berühmte Hirnforscher Samuel Norman (Morgan Freeman) ausmalen. Er weiß jedoch, dass Delphine im Gegensatz zu den Menschen ganze 20% ihrer geistigen Kapazität entfalten. Das ist der Grund dafür, dass die klugen Säuger ein extrem präzises körpereigenes Echolot-System entwickelt haben. — Auf den Menschen übertragen würde das in etwa bedeuten, dass hohe Intelligenz mit einer verstärkten Sehkraft einhergeht. — Unlogischer Weise äußerst sich Lucys ständig zunehmende Intelligenz nicht in einer Verbesserung ihrer logischen Fähigkeiten, sondern in der zunehmenden Entwicklung übersinnlicher und übermenschlicher Fähigkeiten. — Dem oft als Einstein-Nachfolger gehandelten Physiker und Rollstuhlfahrer Stephen Hawking würde es sicherlich gefallen, wenn an dieser These auch nur 10% wahr wäre…

Das ist jedoch alles kein Problem für den französischen Kinomagier Luc Besson. Es ist einfach so, dass das in Lucys Hirn wütende CPH4 nicht nur nach und nach alle geistigen Schranken knackt, sondern im gleichen Maße auch die Gesetzte der Logik aushebelt. Um Lucy wirklich genießen zu können, sollte man als Zuschauer deshalb davon ausgehen, dass Besson diesen Film von vornherein als völlig unglaubliche Camp-Granate angelegt hat, gegen die selbst Das fünfte Element reichlich brav und bieder wirkt. In diesem Zusammenhang wirkt es jedoch sehr irritierend, dass Lucy ständig bierernst den gezeigten Humbug „wissenschaftlich“ zu unterfüttern versucht.

Wie bereits bei Das fünfte Element ist auch Lucy eine poppig-pathetische Schöpfungsgeschichte. Der Name der Protagonistin spielt auf das von Wissenschaftlern „Lucy“ benannte älteste bisher gefundene humanoide Skelett hin. Diese ursprüngliche Lucy wird auch in einer ziemlich mäßigen Animation auf eine Art präsentiert, welche an die Eröffnung von Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum erinnert. Die von Scarlett Johansson verkörperte Lucy ist nun dabei, ebenfalls einen evolutionären Sprung zu tun, welcher dem vom Affen zum Menschen in keiner Weise nachsteht. Nicht ohne Grund wählt Luc Besson als Wunderdroge ausgerechnet eine Substanz, die während der Schwangerschaft produziert wird. Allerdings ist die Wirkung so, als hätten die Affen damals nicht das Sprechen, sondern das Gedankenlesen und anschließend das Fliegen gelernt. — Letzten Endes sind dies natürlich alles kleingeistige Überlegungen, die der wahre Freund des audiovisuellen Überwältigungskinos mit einem Fingerschnippen beiseite wischt. Deshalb sollte man einfach die bescheidenen 10% persönlicher Kapazitätsnutzung noch einmal auf 1% runterschrauben. Dann offenbart sich hier fast ein kleines Meisterwerk:

Bereits die Besetzung ist absolute Spitzenklasse. Mit dem aus Oldboy bekannten Choi Min-sik als Mr. Jang verfügt Lucy über den charismatischsten Antagonisten in einem Besson-Film seitdem sich Gary Oldman in Léon – Der Profi irre grimassierend Pillen eingeworfen hat. Der stets hervorragende Morgan Freeman gibt den schwadronierenden Hirnforscher Samuel Norman derart überzeugend, dass man ihm den Unsinn, den er verzapft, fast abnehmen möchte. Kein Wunder: Schließlich hat der Ausnahmeschauspieler sich zuvor mit der fast ähnlich unsinnigen Sci-Fi-Gurke Trancendence intensiv auf diese Rolle vorbereitet. Scarlett Johansson in der Hauptrolle ist gleich in mehrfacher Hinsicht die ultimative Lucy: Die blonde Muse von Woody Allen hatte die Presse bis vor kurzer Zeit gerne mit so weltbewegenden Äußerungen gefüttert, wie der, dass sie ihre Boobies mag. Das gibt ihr Glaubwürdigkeit als die anfänglich leicht unterbelichtet erscheinende Party-Mamsell. Zuletzt hatte sie als die erotische Stimme eines „Operating Systems“ in Her den evolutionären Sprung in eine übermenschlich-künstliche Intelligenz vollbracht. Und dann wäre da auch noch die traurige Sache mit ihrer Hauptrolle in Jonathan Glazers Under the Skin – traurig deshalb, weil Scarlett als männermordender Alien nicht regulär ins deutsche Kino kommt. — Und der Rest? — Unbeschreiblich-überwältigende visuelle Kinomagie!
 

Lucy (2014)

„Wir nutzen nur zehn Prozent unseres geistigen Potenzials“ — wie oft hat man diesen Satz schon einmal gehört oder irgendwo gelesen? Der Satz wird ja gerne Albert Einstein zugeschrieben, allerdings bestreiten Experten, die sich mit dem Leben des Physikers auskennen, dass jener diese Worte jemals ausgesprochen hat.

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Meinungen

Ann-Kathrin · 24.08.2014

Bringt Zeit mit!
Das ist das, was ich allen raten kann, die sich diesen Film ansehen. Mit seinen 1 1/2 Stunden handelt es sich zunächst um einen Film, der eine völlig "normale" Länge hat, jedoch beschäftigt er einen nach dem Kinobesuch mehr, als andere die meisten Filme.
Während des Films kam bei mir ab und an das Gefühl auf, dass der Film keinen richtigen Höhepunkt hat, was wahrscheinlich daran lag, dass mein Gehirn das gesehene gar nicht so schnell verarbeiten konnte, wie es in dem Film abgelaufen ist.
Es ist nunmal so, dass das menschliche Wesen sich nichts vorstellen kann, was es nicht selbst gesehen, gefühlt, gehört oder gerochen hat.
Wir versuchen alles immer in eine "Schublade" zu presse, um es uns begreiflich zu machen, jedoch funktioniert das bei "Lucy" einfach nicht. Dieser Film behandelt Dimensionen, die wir nicht richtig fassen können. Man kommt aus dem Kino und fängt an, über all das nachzudenken, was der Film uns vermittelt.
Ist es wirklich möglich,
...das Gehirn zu 100% zu nutzen?
...andere Menschen zu steuern?
...alles zu erfassen, was um uns herum ist?
All das sind Fragen, die durch den eigenen Geist geistern werden, wenn der Film zu ende ist.
Natürlich trägt das offene Ende auch dazu bei, dass wir anfangen zu denken und uns Gedanken zu machen.
Alles in Allem ein guter Film, jedeoch bezweifel ich, dass man ihn gänzlich erfassen kann. Es ist als wenn man darüber anfängt nachzudenken, dass das Universum unendlich ist, denn das Unendliche können wir uns nicht vorstellen. Es handelt sich dabei um etwas, was über unseren Horizont hinaus geht, über das Materielle.
Respekt an Luc Besson, dass er die Vorstellungskraft hat, soetwas aufs Papier zu bringen und dann so gut im Film umzusetzen. Durch ihn kann man versuchen zu verstehen, was passieren könnte, wenn wir mehr Berieche unseres Gehirns nutzen könnten.

Schaut euch den Film an und fangt an über das Dasein nachzudenken.

"Das Leben wurde uns geschenkt. Macht was draus."