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Nach dem Ende der Sowjetunion migrierten tausende Mütter aus Moldau in den Westen, um ihre Familien zu versorgen. Die Zurückgebliebenen schickten ihnen Videokassetten – aus denen nun eine Collage entstanden ist.

Love is not an Orange (2022)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Kindheit ohne Mutter

Found Footage ist ein Begriff, der sich in den vergangenen Jahren vor allem für Horrorfilme der Marke „Blair Witch Project“ eingebürgert hat. Ursprünglich kommt er jedoch aus dem Dokumentarischen und bezeichnet das Zusammenstellen historischer Bild- und Videoartefakte zu einem neuen Werk. Ein solches ist auch Otilia Babaras „Love is not an Orange“, dessen ungewöhnlicher Titel sich schon nach wenigen Minuten erschließt.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion begann in der Republik Moldau eine Welle der Arbeitsmigration. „Geld verlor seinen Wert. Wir bekamen keine Löhne mehr. Männer regierten das Land, während wir, die Mütter, in den Westen gingen, um unsere Familien zu ernähren“, berichtet eine weibliche Stimme zu Beginn aus dem Off. Sie wird im Laufe der 72 Minuten noch einige Male zu hören sein, aber körperlos bleiben – genau wie die Mütter, aus deren Briefen sie zitiert.

Denn Love is not an Orange richtet seinen Blick nicht auf die Mütter, die etwa in Italien als Putzkräfte oder Kindermädchen arbeiteten und dafür vielfach über Jahre hinweg ihre Heimat nicht sahen, sondern auf die zurückgebliebenen Familien. Und hier besonders auf die Mädchen, die ohne ihre Mutter aufwuchsen. Aus dem Ausland kamen Geld und Lebensmittel – dafür schickte man Videokassetten zurück. Mit Aufnahmen aus dem Alltag, von Familientreffen, von Geburtstagen, von Weihnachtsfeiern.

Entstanden ist eine Collage aus auf Bild gebannten Lebensabschnittsfragmenten, in der vor allem die kleinen Details, die trotz krisselig-unscharfer 90er-Jahre-VHS-Ästhetik erkennbar sind, immer wieder emotionale Wucht entfalten. Anfangs noch (die meisten Aufnahmen lassen sich dank Timecode zeitlich einordnen) fallen die in die Kamera gesprochenen Grußbotschaften an die Mütter ebenso freudig aus wie das Aufreißen der von ihnen geschickten Care-Pakete. Mit den Jahren jedoch wachsen nicht nur die Mädchen, sondern auch der Frust darüber, die Mama und, für die Väter, die Ehefrau schon seit Jahren nicht mehr gesehen zu haben.

Da gibt es etwa Aufnahmen eines Kinderchors, der ein Lied über Mütter singt, als eines der Mädchen in leise Tränen ausbricht und damit auch den Jungen neben sich ansteckt. Später soll sich das Geburtstagskind vor dem Auspusten der Kerzen etwas wünschen – man kann der Kleinen förmlich vom Gesicht ablesen, was es ist. Und irgendwann wird schließlich auch die italienische Pasta verschmäht.

Love is not an Orange erzählt von einigen wenigen, die stellvertretend für eine Generation stehen, die in ein neues System geboren wurden und von denen viele ihre Mütter und Väter oft über Jahre nicht sahen. Was das mit diesen Kindern langfristig gemacht hat, lässt der Film offen, maßt sich gar nicht erst an, zu psychologisieren, ob und was für Narben das hinterlassen hat. Umso deutlicher und – dem Material geschuldet – authentischer zeigt er, dass Essen, Kleider oder Geld Liebe nicht ersetzen können. Dass das gerade der Trugschluss der älteren Generation war: „Wir gaben euch alles, aber wir haben nie gefragt, was ihr wirklich braucht. Wir sprachen nie über Gefühle, wir sprachen über Dinge“, heißt es in einem letzten Brief.

Love is not an Orange (2022)

„Stell dir vor, diese Kamera ist deine Mutter“, sagt ein Vater zur Tochter. Etliche Familien aus der Republik Moldau begannen in den 1990er Jahren einen ritualisierten Postverkehr zwischen den aus ökonomischen Gründen migrierten Müttern und den Angehörigen in der Heimat: Erstere schickten Geld und Güter, letztere schickten Videotapes. Solche Amateuraufnahmen sind das Material dieses Films. Sie bezeugen die schmerzhaften Leerstellen der Abwesenden im Leben der Daheimgebliebenen. (Quelle: Dok Leipzig)

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