Log Line

Eine junge Frau verschwindet. Ihre Mutter legt sich mit den Behörden an. Liz Garbus hat ein wahres Verbrechen verfilmt. Anders, als man(n) annehmen könnte.

Lost Girls (2020)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Eine Mutter lässt nicht locker

Die Lust am Kriminalgenre ist ungebrochen in Literatur, Film und Fernsehen. Ob die Verbrechen frei erfunden sind oder tatsächlich verübt wurden, scheint dem Publikum herzlich egal zu sein. Schließlich bieten beide ausreichend Nervenkitzel. Regisseurin Liz Garbus hat sich eines hierzulande eher unbekannten Falls angenommen und unterläuft bei dessen filmischer Verarbeitung manche Erwartung.

Es beginnt unscheinbar. Ein Telefonat, ein verpasster Termin. Keine große Sache. Als ihre älteste Tochter Shannan (Sarah Wisser) nicht wie verabredet zum Abendessen erscheint, denkt sich Mari Gilbert (Amy Ryan) nichts dabei. Shannan führt schon lange ihr eigenes Leben. Mari hat andere Sorgen. Um sich und ihre beiden jüngeren Töchter Sherre (Thomasin McKenzie) und Sarra (Oona Laurence) über Wasser zu halten, strampelt sie sich in gleich zwei Jobs ab. Ein zweiter, seltsamer Anruf am nächsten Morgen lässt Maris Alarmglocken schrillen.

Bei der Polizei will man(n) von Shannans Verschwinden nichts wissen. Doch die Mutter lässt nicht locker. Als Kellnerin ist Mari nicht auf den Mund gefallen und als Baggerfahrerin auf dem Bau kann sie nicht nur zupacken, sondern weiß, wie frau die richtigen Knöpfe drückt. Erst macht sie dem Polizisten Dean Bostick (Dean Winters) die Hölle heiß, der sie dafür schon mal als „feisty“ und das nicht im positiven, dem resoluten, sondern im kratzbürstigen Sinn bezeichnet. Danach geht Mari mit Sonderermittler Richard Dormer (Gabriel Byrne) in den Clinch.

Als Dormer den Ring betritt, hat sich das Vermisstendrama bereits zu einem Serienmörder-Thriller ausgewachsen. In der Nähe der beschaulichen Gated Community Oak Beach auf Long Island, mehr als 150 Kilometer von Shannans Wohnung entfernt, wurden vier Frauenleichen gefunden. Shannan ist nicht darunter, teilt mit den Ermordeten aber die Profession: Auch sie war als Sexarbeiterin tätig, auch sie hat ihre Kunden über die Anzeigenwebsite Craigslist akquiriert und auch sie wurde zuletzt in Oak Beach gesehen. Während die Ermittler weiter im Dunkeln tappen, lenkt Joe Scalise (Kevin Corrigan), ein Bewohner von Oak Beach, Maris Aufmerksamkeit auf seinen Nachbarn, den Arzt Peter Hackett (Reed Birney).

Regisseurin Liz Garbus zeichnete bislang ausschließlich für dokumentarische Stoffe verantwortlich. Zu den bekanntesten zählen Love, Marilyn (2012) und What Happened, Miss Simone? (2015). Lost Girls ist ihr erster Spielfilm und erscheint wie die logische Folge ihres bisherigen Werks. Die Geschichte basiert nicht nur auf einem wahren Fall und Robert Kolkers gleichnamigem Sachbuch. Sie enthält auch beinahe alle Ingredienzien des zuvor von Garbus Gedrehten – vom kritischen Blick auf das Justizsystem (The Farm: Angola, USA u. a.) über den zärtlichen Blick auf Frauenfreundschaften (Girlhood) und den forschenden Blick auf psychische Erkrankungen (Zug um Zug in den Wahnsinn, A Dangerous Son u. a.) bis zum faszinierten Blick auf einen ungelösten Mordfall (Who Killed Garrett Phillips?).

Stilistisch erinnert Lost Girls an skandinavische Krimis, deren Kino- und Fernsehadaptionen und ihre US-Remakes wie etwa The Killing (2011-2014). Auch Garbus erzählt von den Abgründen, die sich hinter den Fassaden der Schönen und Reichen auftun und denen die weniger Begüterten zum Opfer fallen. Sie zeigt das Grauen in entsättigten Farben, in Blau-, Grau- und Schwarztönen vor atemberaubend rauen und schroffen Landschaften, die wie die dort lebenden Menschen von Wind und Wetter gegerbt sind.

Mari ist so eine vom Leben Verhärmte, die sich davon aber nicht unterkriegen lässt. Amy Ryan – ohnehin auf resolute Frauen, nicht selten in typischen Männerberufen, abonniert – spielt ihre Figur mit Bravour, als Frau, die immer stärker als die Männer um sie herum sein musste und dabei auch viele Fehler gemacht hat, wie sich nach und nach herausstellt. Der Filmtitel meint auch sie. So mutig und bestimmt sie auch auftritt, so viel Frau sie selbstredend ist, ein wenig lost girl steckt auch in ihr.

Garbus macht aber auch vieles anders. Sie stellt die Körper der ermordeten Frauen nicht aus, ästhetisiert und degradiert sie nicht zu Objekten. Ganz im Gegenteil! Als sich die Angehörigen der vier Opfer am Tatort einfinden und mit Mari, Sherre und Sarra zur Planung einer Gedenkveranstaltung treffen, macht sich Mari vehement für eine andere Wahrnehmung stark. Polizei und Medien sprächen stets von „Prostituierten“ oder „Nutten“ (Original: „hooker“), sähen sie nie als Töchter, Schwestern, Freundinnen oder Mütter.

Das ist ein starkes Statement eines insgesamt durchwachsenen Films. Die große Schwäche liegt in der Unabgeschlossenheit. Der Mörder, den die Presse unter anderem „Craigslist Ripper“ nannte, wurde bis heute nicht gefasst. Zwar geht es Garbus lobenswerterweise gerade einmal nicht um den Täter, doch kann sie sich der Faszination der Ermittlungen nie ganz entziehen. Letztlich schwankt Lost Girls stets den entscheidenden Tick zu unentschlossen zwischen Krimi und Drama, zwischen spannender Verbrecherjagd, Familienkrise und Medien- und Behördenschelte.

Lost Girls (2020)

Als eines Nachts ihre 24-jährige Tochter Shannan Gilbert auf mysteriöse Weise verschwindet, beginnt für ihre Mutter Mari eine dunkle Odyssee mit unbequemen Wahrheiten über ihre Tochter, sie selbst und die Rolle der Polizei. Da sie ihre Tochter um jeden Preis finden will, verfolgt Mari Gilbert die letzten bekannten Schritte von Shannan und landet bald in einem abgesperrten Stadtviertel in den sozial fragwürdigen Randgebieten von Long Island. Ihre Entdeckung ruft die Polizei und die Medien auf den Plan, denn plötzlich geht es um mehr als ein Dutzend unaufgeklärte Morde an Prostituierten – alles junge Frauen, die Mari nicht in Vergessenheit geraten lassen will.  

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen