Lollipop Monster

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Weil ich ‘n Mädchen bin...

Ari (Jella Haase) und Oona (Sarah Horváth) sind zwei Mädchen im gleichen Alter und leben doch in vollkommen verschiedenen Welten: Die von Ari ist quietschbunt und wird von einer hyperaktiven Mutter gewienert, die gerne mal ihre Sprösslinge beim Mittagessen an den Händen packt und mit dem Worten „Piep, piep, piep, wir ha’m uns alle lieb“ zur Versöhnung auffordert. Oonas Familie hingegen bevorzugt die Farbe schwarz und hält sich mit dem Aufrechterhalten einer (spieß)bürgerlichen Fassade schon lange nicht mehr auf. Ihr Vater ist ein verkrachter Maler, der seine besten Jahre längst hinter sich hat, und der darüber in Depressionen und Selbstmitleid versinkt, während ihre Mutter sich lieber mit ihrem Schwager Lukas vergnügt, der zugleich der Galerist ihres Mannes ist.
Als sich Oonas Vater aus Frust über das eigene künstlerische Versagen und Verbitterung über die Affäre seiner Frau erhängt, reagiert seine Tochter heftig auf den Schock, sie ritzt sich die Arme auf und ergeht sich in Gewaltphantasien, die sie in düsteren Zeichnungen zu Papier bringt. Obwohl die beiden Mädchen, die die gleiche Schule besuchen, schon rein äußerlich kaum unterschiedlicher sein könnten, freunden sie sich miteinander an, teilen ihre Probleme, die sich bei genauerer Betrachtung dann doch sehr ähneln und erleben eine Zeit, die neben Trauer und Tod auch den ersten Sex, den ersten Liebeskummer und viele weitere Höhen und Tiefen bereithält. Freiheit und Aufbegehren, Liebe und Zärtlichkeit, aber auch Rache für erlittenes Unrecht und Verrat und die schlussendliche Ablösung von ihren dysfunktionalen Familien — all das werden Ari und Oona gemeinsam erleben und durchleiden…

In seiner wilden Mixtur aus Trash und ernsthaften Jugenddrama, aus gerne mal überzeichneter Pop(sub)kultur, Comic, Sex und Musik wirkt Lollipop Monster manchmal wie eine deutsche Version von Filmen wie Gregg Arakis Kaboom - ohne allerdings so vollkommen jegliche Bodenhaftung unter den Füßen zu verlieren wie das erwähnte Vorbild, das sich am Ende in purem Pulp auflöst. Auch David Lynch oder die neongesättigten Nachtszenen in Japan aus The Stratosphere Girl von M.X. Oberg kommen einem in manchen Szenen in den Sinn.

Die zahlreichen, bunt zusammengewürfelten Elemente, die Lollipop Monster seinen ganz eigenen Charme und seine unverwechselbare Handschrift geben, reflektieren auch die recht ungewöhnlichen Karrieren der Regisseurin Ziska Riemann und ihre Co-Autorin Lucie van Org. Riemanns Wurzeln liegen im Comicbereich, gemeinsam mit Gerhard Seyfried hat sie mehrere Alben veröffentlicht (u.a. „Space Bastards“, „Future Subjunkies“, „Starship Eden“, „Die Comics. Alle!“, und „Kraft durch Freunde“). Neben ihrer Arbeit als Comicautorin schrieb Riemann Kurzgesschichten und Drehbücher, gründete ein Plattenlabel, veröffentlichte ein Soloalbum und drehte verschiedene Kurzfilme. Nicht minder schildernd ist die Vita von Lucie van Org, die bereits als Moderatorin arbeitete, diverse Kolumnen für die Berliner Morgenpost, die Welt am Sonntag, TAZ und Sounds schrieb, bei verschiedenen TV-Serien als Autorin beteiligt war und nicht zuletzt als Musikerin einige Projekte am Start hatte. Ihr mit Sicherheit bekanntestes Bandprojekt war Lucilectric, mit dem sie mit dem Song „Mädchen“ für kurze Zeit zum Liebling aller Radiosender mutierte und 1,5 Millionen CDs verkaufte. Es folgten weitere musikalische Veröffentlichungen mit Das Haus von Lucie, Üebermutter sowie Texte und Kompositionen für Nena, Nina Hagen, Udo Lindenberg, James Last, Kim Fisher, Katja Saalfrank und andere.

Das Ergebnis der wilden Melange ist ein erfrischendes und rotzfreches Popdrama, das allen wilden Hühnern und noch wilderen Kerlen zeigt, was eine Harke ist. Schön, dass gerade bei den Filmen, die sich an ein jüngeres Publikum richten, der Mut zum Experiment dann doch noch nicht ganz verloren gegangen ist.

Filme wie Lollipop Monster könnten einen beinahe zu der Annahme verleiten, dass in diesem Berlinale-Jahrgang vor allem diejenigen Filme, die sich an ein junges bis ganz junges Publikum richten, für Furore sorgen werden. Umso wichtiger ist es dafür Sorge zu tragen, dass die junge Generation wieder in stärkerem Maße an das Kino herangeführt wird — denn ohne sie hat das Kino als ernstzunehmender Kultur- und Wirtschaftsfaktor keine Chance. Filme wie Ziska Riemanns Debüt und viele andere Werke, die im Programm der Generation-Reihe der Berlinale laufen, sind eine ausgezeichnete Werbung dafür, was Kino gerade für Kinder und Jugendliche sein kann — wenn es sich etwas traut.

Umso wichtiger ist es, dass diese Filme dann überhaupt ins Kino kommen und dort genügend Raum erhalten. Im Falle von Lollipop Monster ist diese Vorbedingung immerhin schon mal gegeben, es wird einen deutschen Kinostart für das schräge und herrlich ironische Pop-Drama-Märchen geben — und zwar am 25. August 2011. Die herzerfrischende Alternative zum langweiligen Einerlei der Filme für Jugendliche sollte man sich aber ganz sicher schon mal vormerken.

Lollipop Monster

Ari (Jella Haase) und Oona (Sarah Horváth) sind zwei Mädchen im gleichen Alter und leben doch in vollkommen verschiedenen Welten: Die von Ari ist quietschbunt und wird von einer hyperaktiven Mutter gewienert, die gerne mal ihre Sprösslinge beim Mittagessen an den Händen packt und mit dem Worten „Piep, piep, piep, wir ha’m uns alle lieb“ zur Versöhnung auffordert.
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Meinungen

Gaby · 21.03.2017

Krankes Zeug. Daumen runter!

Isabelle · 22.09.2012

Genial.Feinfühlig.Genau den richtigen Ton. Ich bin Fan!

Dietrich · 24.09.2011

Mehrmals gesehen gewinnt der Film, wird nicht langweilig. Eine Empfehlung zum Mord - aber nein, das ist doch auch wie im Theater eine Überhohung - im Gegenteil also zum rückblickenden Nachdenken anregend. Eine Warnung die Handlungen in der Konsequenz zu reflektieren. Jugendliche Zuschauer sind doch wach und nicht naiv.

Harald · 27.08.2011

Meine Begleitung war enttäuscht, ich begeistert.
Ausgezeichneter Film, der Kinoabend ein wahrer Genuss.
Genau richtig die Mischung aus ernstem Thema und abgedrehter Umsetzung.

Michelle · 25.08.2011

Diesen Film finde ich nicht gut - weder frisch,noch respektvoll - hoffentlich sehen das sich nicht Viele an. Für junge Leute sogar bedenklich. Psychologisch unverantwortlich von der Filmemacherin.

wignanek-hp · 14.07.2011

Ich glaube, es ist hart, wenn man an solchen Themen aus irgendwelchem Grund selbst nah dran ist. Dann kann man es nicht lustig finden. Mir geht das manchmal auch so. Der Film ist auch kein reiner Jugendfilm. Er wirft zwar einen Blick auf das Leben Jugendlicher, die Perspektive ist aber durchaus eine erwachsene.
Der Film zeigt extremes Verhalten, er zeigt aber auch, woher die Verletzungen kommen, die beide Mädchen dorthinein treiben. Das Umfeld der Mädchen wird trotz aller Ironie und Übertreibung psychologisch stimmig gezeichnet. Die grausamen Szenen sind nicht geschönt. Sie gehören aber hierher und sind kein Selbstzweck wie so oft. Insgesamt ist der Film jedoch so konstruiert, dass man das Ende nicht wirklich ernst nehmen kann. Es ist vielmehr als Genre-Zitat zu betrachten. Ich kann allerdings verstehen, wenn Jugendliche selbst diesen Film nicht lustig finden.

Kathi · 23.06.2011

"Die herzerfrischende Alternative zum langweiligen Einerlei der Filme für Jugendliche sollte man sich aber ganz sicher schon mal vormerken."
Ich frage mich, wie herzerfrischend sie diesen Film finden, wenn sich ihre Schwester anfängt zu ritzen oder versucht sich selbst umzubringen. Das ist hart, so etwas in so ein harmloses Kleid zu packen.
Der Film ist durch und durch negativ und wirkt doch so, als wäre es Alltag, ganz normal. Macht ja nichts, wenn einen der eigene Bruder krankenhausreif schlägt. Nichts in dem Film ist angemessen, einfach nur völlig abgedreht. Warum soll man auch nicht seinen Onkel töten und danach durch einen blühenden Obsthain davonlaufen?
Ich finde ihn einfach absolut behindert, gerade weil er solche Themen in dieser "erfrischenden" Art und Weiße zeigt. Warum gibt es eine Selbstverpflichtung der Medien über Selbstmorde nicht detailiert oder gar nicht zu berichten, wenn sich sogenannte poppige Jugendfilme einfach darüber hinwegsetzen und es verherrlichen. Über so eine Ironie kann ich leider nicht lachen. Vielleicht ist der Film mutig, aber meiner Meinung nach überschreitet er einfach Grenzen, die in einem Jugendfilm nicht überschritten werden sollten.

Marcus · 25.02.2011

Ich habe den Film im Laufe der Berlinale sehen können und bin sehr begeistert.
Der Film ist frich und es sind nette Ideen in den Film geflechtet.
Focus ist die Beziehung zwischen Aari und Oona.
Aari ist durch den Tod ihres Vaters sehr verstört und freundet sich mit der im ersten Moment nicht passenden Oona an. Aari gibt Oona Mut sich Dinge zu trauen die sie von selber mit großer wahrscheinlichkeit nicht getraut hätte.Da werden ältere Männer angebaggert und auch ihr erster Sex stellt sich jeder wahrscheinlich anders vor asl er in dem Film gezeigt wird. Das alles aber sehr gut engefangen.
Mich errinnert der Film ein wenig an Heavenly Creatures von Peter Jackson gemischt mit einer Prise David Lynch. Das ganze ein wenig mit tollen Bilder in die heutige Zeit transportiert macht aus dem Film einen sehr erfrischenden Film wie es ihn in dieser Form noch nicht gab.
Kinostart soll im Sommer sein wie mir die Regisseurin miteilte.
Ich hoffe das sich diesen außergewöhnlichen Film viele Besucher bekommt.
So muss Kino sein....

wignanek-hp · 18.02.2011

Dem Kommentar ist nichts hinzuzufügen.
Ein herzerfrischend frecher Film! Ich wünsche mir viele so mutige Filme in der Blockbusterwüste des deutschen Kinos.