Liebesbriefe eines Unbekannten

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Eine geheimnisvolle homoerotische Verführung

Im Sommer 1989 erhält der Linguistikstudent Boaz (Yoav Reuveni) in Tel Aviv eine Reihe von anonymen Briefen. Darin erklärt ihm ein Mann mit zunehmender Deutlichkeit seine Liebe. Boaz, der mit seiner Freundin Noa (Moran Rosenblatt) zusammenlebt, kann es bald kaum mehr erwarten, sein Postfach zu öffnen. Die Worte des Unbekannten wecken Erinnerungen an seine Zeit beim Militär und an den Soldaten Nir (Yehuda Nahari), der ihn einmal zu einem Kuss verführte. Boaz schaut die Männer auf der Straße, im Schwimmbad und an der Universität nun viel aufmerksamer an. Die Blicke Fremder, die Bemerkungen des Kfz-Mechanikers kommen ihm irritierend doppeldeutig vor: Jeder von ihnen könnte der Autor der Briefe sein, einer ist es sogar mit Sicherheit. Denn der Unbekannte weiß über Boaz‘ Alltag erstaunlich gut Bescheid.
Die Vorlage für den ersten Spielfilm des israelischen Dokumentarfilmers Yariv Mozer liefert eine Kurzgeschichte des Bestsellerautors Yossi Avni-Levy. Sie stammt aus seinem Buch mit dem Titel Der Garten der toten Bäume. Ende der 1980er Jahre kommunizieren die Protagonisten noch nicht im Internet. Viele Männer geben sich große Mühe, ihre homosexuellen Neigungen vor ihrem Umfeld zu verbergen und trauen sich nicht, auf Partnersuche zu gehen. Beim Militär bekommt Boaz zwar erste Hinweise darauf, dass ihn gleichgeschlechtliche Nähe erregt, aber gerade in diesem Milieu wird ein sehr traditionelles Männerbild hochgehalten. Mittlerweile hat sich Boaz offenbar auch ganz gut in einer heterosexuellen Partnerschaft eingerichtet. Erst die geheimnisvollen Briefe lenken seine Blicke auf all die Männer da draußen, von denen ihn einige mit einem größeren Interesse betrachten, als ihm bisher bewusst war.

Der Briefeschreiber, den man nicht erkennt, wenn er in seine Schreibmaschine tippt, der aber seine Sätze aus dem Off vorliest, erzählt Boaz, wie viel Überwindung es ihn kostet, seiner Lust nachzugeben. Er geht mit gemischten Gefühlen in den nächtlichen Park, in dem sich Schwule treffen. Heftige Schwankungen zwischen Anziehung und Abstoßung durchlebt nun parallel zu diesen Geständnissen auch Boaz, kaum dass er sich der verdrängten Versuchung bewusst wird.

Die Geschichte wird in viele kurze Alltagsszenen aufgesplittet, in denen in der Regel wenig Bemerkenswertes passiert. Boaz tastet sich beim Essen mit Noa oder in schlafloser Nacht in sich gekehrt an diese neuen Gefühle heran, die ihn freuen und quälen. Dabei weiß er nicht, dass seine Freundin die Briefe ebenfalls liest. Die äußerlich so unscheinbare Handlung entwickelt eine starke Spannung, in der sich Boaz‘ stiller Konflikt intensiv mitteilt. Die Atmosphäre wirkt sehr authentisch und unmittelbar. Weil Boaz nicht weiß, wer der Autor der Briefe ist, und sich Noa abwartend verhält, muss er allein entscheiden, welchen Weg er sexuell einschlagen wird. Der Film hält diese innere Abwägung virtuos in der Schwebe, so dass ihr Ausgang, der erst am Schluss verraten wird, nicht vorausgeahnt werden kann. Das Fotomodell Yoav Reuveni wird wohl primär wegen seines attraktiven Aussehens für seine erste Spielfilmrolle gecastet worden sein. Aber seine zurückgenommene, weitgehend nonverbale Darstellung überzeugt auch über die gewünschte erotische Wirkung hinaus.

Auch wenn die Handlung dieses unprätentiösen, mit leichter Hand inszenierten Films vor 25 Jahren spielt, kann man sich mühelos vorstellen, dass auch heute, in diesem Moment, zahlreiche Männer eine ähnliche Krise wie Boaz durchmachen.

Liebesbriefe eines Unbekannten

Im Sommer 1989 erhält der Linguistikstudent Boaz (Yoav Reuveni) in Tel Aviv eine Reihe von anonymen Briefen. Darin erklärt ihm ein Mann mit zunehmender Deutlichkeit seine Liebe. Boaz, der mit seiner Freundin Noa (Moran Rosenblatt) zusammenlebt, kann es bald kaum mehr erwarten, sein Postfach zu öffnen. Die Worte des Unbekannten wecken Erinnerungen an seine Zeit beim Militär und an den Soldaten Nir (Yehuda Nahari), der ihn einmal zu einem Kuss verführte.
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