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Moderne Eltern und ihre Erziehungsmethoden – das kann mal komisch, mal tragisch enden. Ricardo Trogi entscheidet sich für einen Mittelweg, der kaum als Leitfaden taugt.

Leitfaden für die perfekte Familie (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Schlecht ausbalancierte Work-Life-Balance

Auf das amerikanische Publikum dürfte dieser kanadische Film beruhigend wirken. Normalerweise wird das Vorzeigeland immer dann herangezogen, wenn aufgezeigt werden soll, was in den Vereinigten Staaten alles schief- und in der Nation mit dem Ahornblatt auf der Flagge alles besser läuft. In puncto Kindererziehung stehen die nördlichen ihren südlichen Nachbarn aber anscheinend in nichts nach. Auch jenseits des 49. Breitengrads herrscht eine Mischung aus Ratlosigkeit und Überforderung. Allzu viel US-Publikum dürfte Ricardo Trogis Tragikomödie allerdings nicht finden, denn dazu müssten die Zuschauenden Untertitel lesen. Wem Trogis in Quebéc und auf Frankokanadisch gedrehter Film entgeht, hat allerdings auch nicht viel verpasst.

Sicherheit ist Martin Dubois‘ (Louis Morissette) Geschäft. Ob im schicken Büro mit Blick über die Stadt, wo er kurz davor steht, eine millionenschwere Versicherungspolice mit einem Busunternehmen abzuschließen, oder im aufgeräumten Eigenheim, das einem „Schöner Wohnen“-Katalog entnommen sein könnte – im Leben des zweifachen Familienvaters folgt alles einem Plan, ist alles doppelt und dreifach gegengecheckt, um ja den maximalen Erfolg zu garantieren. Schließlich soll es seinen Kindern einmal (noch) besser gehen als ihm.

Für Rose (Emilie Bierre), Martins Tochter aus erster Ehe, bedeutet das vor allem einen prallvollen Terminkalender. Die 16-Jährige besucht eine Eliteschule und bekommt für jede Eins, die sie schreibt, vom Herrn Papa als kleine Belohnung einen großen Schein zugesteckt. In ihrer Freizeit tanzt sie, spielt auf hohem Niveau Eishockey oder hat Nachhilfeunterricht in Englisch. Wirklich frei hat sie eigentlich nie. Ihr jüngerer Halbbruder Mathis (Xavier Lebel) hat’s da schon etwas leichter.

Dessen Mutter Marie-Soleil (Catherine Chabot) zwingt Mathis zwar gesundes Essen auf, das der kleine Mann ein ums andere Mal mit einer simplen Handbewegung verächtlich vom Tisch fegt, zur Verantwortung gezogen wird der Fünfjährige für sein ungezogenes Benehmen jedoch nie – egal ob er mit Lebensmitteln um sich wirft oder Bälle in anderer Leute Weichteile. Hier zeigt sich die zu gleichen Teilen überprotektive und antiautoritäre Erziehung von ihrer schlechtesten Seite – und wird obendrein ziemlich witzig dargeboten.

Überforderte Eltern und von ihren Eltern überforderte Kinder sind im Kino nichts Neues. Inzwischen kommt die Welt der sozialen Medien als weitere Überforderung hinzu. In dieser mächtigen Einflusssphäre konkurrieren nicht nur die Kids, sondern auch die Eltern um die besten Fotos und die meisten Likes. Die Bandbreite reicht von Helikoptereltern, die alles kontrollieren wollen, bis zu Freigeistern, denen alles egal zu sein scheint. Freilich wollen alle nur das Beste für den Nachwuchs und merken gar nicht, wie viel Schaden sie damit anrichten. In letzter Zeit nahm sich eine ganze Reihe an Filmen dieses Themas an – ob tragisch und überästhetisiert wie im US-Drama Waves (2019), ob anarchisch und überdreht wie in der Netflix-Komödie Yes Day (2021), ob schnoddrig und staubtrocken wie in der Schweizer Komödie Wir Eltern (2019) oder massentauglich und mitunter tiefgründig wie in der deutschen Produktion Enkel für Anfänger (2020), um nur wenige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen.

Im Gegensatz dazu hat Ricardo Trogis Film jedoch ein großes Problem: Er kann sich nicht recht entscheiden, ob er komisch oder tragisch sein will. Was wie eine Satire beginnt und in manchen Szenen gar wie eine Farce anmutet, schlägt irgendwann ins Dramatische um, wenn mittels des Drucks, der auf Rose lastet, und ihrer unbefangen sorgenfreien Mutter Caroline (Isabelle Guérard) auch noch von Depressionen bei Jugendlichen erzählt werden soll. Trogi gelingt es hier nie, die Balance zu halten. Großartige Szenen, in denen der Film die Ausmaße, die diese Überfürsorge inzwischen angenommen hat, und die Ergebnisse, die sie produziert, auf die Schippe nimmt, wechseln mit tragischen Momenten, die vom Drehbuch viel zu forciert sind. Das passt nicht zusammen und wirkt ebenso aufgesetzt wie die Social-Media-Postings, die Trogi prominent ins Bild rückt. 

Einige komische Momente aber überzeugen. Dann kommt es zu absurden Konversationen zwischen Martin und einem seiner jungen Kollegen, der so sehr auf seine Work-Life-Balance pocht, dass er gleich gar nicht zur Arbeit erscheint. Jedes noch so harmlose Gespräch ist für diesen Waschlappen sofort ein mikroaggressiver Stressfaktor. Das ist zugleich ehrlich und herrlich überspitzt. Oder es werden Vorschulabschlüsse von Fünfjährigen gefeiert, als hätten diese soeben erfolgreich ein Studium absolviert. Ein skurriles Schauspiel, das sich kein:e Drehbuchautor:in besser hätte ausdenken können, das in vielen Kindergärten, Vorschulen und Schulen aber längst Alltag ist. Erschreckend komisch! 

Mit etwas mehr Komik und deutlich weniger Tragik hätte aus diesem Leitfaden für die perfekte Familie ein echter Leitfaden für einen gelungenen Film werden könne.

Leitfaden für die perfekte Familie (2021)

Ein Paar aus Québec kämpft in einer auf Erfolg und Image in den sozialen Medien gedrillten Gesellschaft mit Fallstricken und hohen Erwartungen an die Kindererziehung.

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