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In ihrer Tragikomödie „Last Dance“ behandelt Delphine Lehericey auf leichte Art ein schweres Thema: Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau Lise übernimmt der ungelenke, mürrische 75-Jährige Germain nicht ganz freiwillig deren Rolle in einer zeitgenössischen Tanzinszenierung.

Last Dance (2022)

Eine Filmkritik von Stefanie Borowsky

Germain tanzt heimlich

Die Schweizer Regisseurin und ausgebildete Schauspielerin Delphine Lehericey erhielt für ihren Coming-of-Age-Film „Das Flirren am Horizont“ (2019) beim Schweizer Filmpreis 2020 die Auszeichnungen für den Besten Spielfilm und das Beste Drehbuch. „Last Dance“, dessen Drehbuch sie auch schrieb, stellte sie 2022 beim Locarno Film Festival in der Sektion Piazza Grande vor und gewann den Publikumspreis. Darin spielt ein Mann in seinen Siebzigern die Hauptrolle, der um seine langjährige Ehefrau trauert – und sich fragt, wie er mit dem Verlust weiterleben soll. Unverhofft bringt der Tanz ganz neuen Schwung in das Leben des bewegungsscheuen, bürgerlich-häuslichen Bücherwurms.

Rentner Germain (François Berléand) liebt Literatur, besonders Proust, und er liebt seine Frau Lise (Dominique Reymond), mit der er die Leidenschaft fürs Lesen teilt. Gern liegen die beiden Seite an Seite im Bett, während er ihr aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vorliest. Doch neuerdings hat Lise noch ein anderes Hobby: Sie hat sich einem zeitgenössischen Tanzensemble angeschlossen, in dem Profis und Laien gemeinsam für eine Aufführung proben. Lise hat großen Spaß am Tanzen, doch dann kommt alles anders: Plötzlich stürzt sie in der Küche zu Boden – und stirbt.

Während Germains Familie – Sohn Mathieu (Jean-Benoît Ugeux) und Tochter Carole (Sabine Timoteo) mit Anhang – eifrig Pläne erstellt, damit sich jederzeit jemand um Germain kümmert, fühlt der sich bevormundet und eingeengt. Alles, was für ihn zählt, ist ein Versprechen, das er Lise gegeben hat: Derjenige, der zuerst stirbt, führt das letzte Projekt des anderen zu Ende. Für Germain heißt es also: Rauf auf die Bühne! Und das ohne jegliche Tanzerfahrung – und ohne dass seine besorgte Familie und die aufdringliche Nachbarin Elisabeth (Marie-Madeleine Pasquier) davon Wind bekommen.

Und tatsächlich: Als Germain vor der gesamten Tanzkompanie auf bewegende Weise erklärt, warum er dabei sein möchte, nimmt Choreographin La Ribot (gespielt von ihr selbst) ihn auf. Nach anfänglichen Zweifeln an seinem Können entdeckt sie etwas Besonderes an Germain. Seine Geschichte rührt sie – und kurzerhand stellt sie ihn ins Zentrum ihrer Choreografie. Tänzer Samir (Kacey Mottet Klein) hilft Germain, seine zeitintensive neue Beschäftigung vor seiner Familie zu verheimlichen. Doch Nachbarin Elisabeth, die Germain mit Tupperboxen voller Essen überschüttet, die er entnervt hortet oder an die Katzen verfüttert, und Germains Familie, die ihn zum Umzug in eine seniorengerechte Wohnung überreden will, werden immer misstrauischer. Als der unfreiwillige Laientänzer zuerst Enkelin Lucie (Lisa Harder) ein Alibi verschaffen und dann auf Wunsch seiner Tochter der Schülerin Jennifer (Elise Havelange) bei den Hausaufgaben helfen soll, obwohl zeitgleich die Premiere immer näher rückt, droht Germains sorgsam geplantes Versteckspiel aufzufliegen.

Im Theater findet Germain fast so etwas wie eine neue Familie. Seine eigenen Kinder, mit denen er nicht aufrichtig und auf Augenhöhe kommunizieren kann, weil sie ihn nicht ernst nehmen, treiben ihn dagegen durch ihre Überfürsorge in Form von ständigen Anrufen und Besuchen, die sie untereinander mittels bunter Klebezettel organisieren, mehr und mehr in den Wahnsinn. Lehericey gelingen viele rührende und komische Momente rund um den ungelenken Witwer und sein klandestines Hobby. Allerdings kommen mehrere Nebenfiguren etwas eindimensional daher und manche Erzählstränge spitzt Lehericey nicht zu – sie laufen ins Leere. So versanden gute Ansätze, aus denen mehr hätte entstehen können. Da ist etwa Catherine (Astrid Whettnall) aus dem Tanzensemble, die sich Germain geradezu an den Hals wirft – und die dann schnell keine Rolle mehr spielt. Auch Tänzerin Marjanne (Déborah Lukumuena), die sich offen dagegen ausspricht, den tänzerisch unerfahrenen Germain zum Mittelpunkt der Inszenierung zu machen, ändert ihre Meinung über ihn schnell und fast nebenbei. Das ist schade, denn von Lukumuena, die 2017 für Divines den César als Beste Nebendarstellerin gewann, hätte man gern mehr gesehen.

Die Nebenplots um Germains Enkelin Lucie, die ihren Opa eines Tages oberkörperfrei mit Samir im Wohnzimmer überrascht und die beiden für homosexuell hält, sowie um die hilfebedürftige Schülerin Jennifer, die sich hauptsächlich für ihr Smartphone interessiert, wirken zwar etwas konstruiert und teils klischeehaft, bringen jedoch auch Komik und Tempo in die ruhig erzählte Geschichte. Spannend ist die Integration der Kunstform Tanz in den Film. Die Tanzszenen, choreographiert von der in der Schweiz lebenden spanischen Tänzerin, Choreografin, Installations- und Aktionskünstlerin María José Ribot alias La Ribot, lassen die Zuschauer*innen gemeinsam mit Germain den zeitgenössischen Tanz entdecken: Die Szenen auf der Probebühne geben Einblicke in die Zusammenarbeit von Profitänzer*innen und Laien – ein Markenzeichen der Choreografin, die u. a. den Großen Preis der Schweiz für Tanz 2019 und 2020 den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk bei der Tanz-Biennale von Venedig gewann.

Delphine Lehericey widmet sich in Last Dance auf leise und leichtfüßige Art einem schweren Thema, das auf die Leinwand gehört, weil es uns alle angeht: Trauer um einen geliebten Menschen. François Berléand, der schon etwa in Auf Wiedersehen, Kinder (1987) von Louis Malle und Die Kinder des Monsieur Mathieu (2004) von Christophe Barratier überzeugte, trägt den Film durch seine glaubwürdige Darstellung eines zurückhaltend-mürrischen und eigenwilligen Witwers, der durch das Versprechen an seine verstorbene Frau seine Trauer bewältigt – und durch das Tanzen auf der Bühne und den Kontakt mit deutlich jüngeren Menschen wieder in körperliche und geistige Bewegung kommt. Wie Germain sich gerade fühlt, erfahren die Zuschauer*innen zwar vor allem aus Briefen, die er seiner Frau schreibt und aus dem Off vorliest, doch hinter den Botschaften an Lise steckt noch mehr: eine herzergreifende Erinnerung, die an dieser Stelle nicht verraten werden soll. Trotz seiner kleinen Schwächen berührt der feinfühlig inszenierte Last Dance – und wird sein Publikum finden.

Last Dance (2022)

Der lebenslustige Rentner Germain geniesst sein Leben im Ruhestand. Während er sich der Lektüre von Proust widmet, tanz seine Frau Lise in einem zeitgenössischen Tanzensemble. Doch plötzlich stirbt Lise. Aus Sorge um sein Wohlergehen, mischen sich seine Kinder fortan in Germains Alltag ein und stellen damit sein Leben auf den Kopf. Ihre ständigen Besuche, Anrufe und organisierten Mahlzeiten nehmen ihm langsam die Luft zum Atmen. Germain gibt zwar vor mitzuspielen, verfolgt aber insgeheim einen anderen Plan: Er löst ein Versprechen ein, das er Lise gegeben hat – Germain bewirbt sich beim zeitgenössischen Tanzensemble um ihre Rolle. Wie lange wird Germain dieses Doppelleben führen können, ohne dass seine Kinder Wind davon bekommen?

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