La Fille du RER

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Fauxpas eines netten Mädchens

Bei vielen Gewaltakten, die eine ganze Nation in Aufruhr bringen, stellt sich die Frage nach dem Warum. Noch rätselhafter ist eine Tat, die im Jahr 2004 halb Frankreich in Atem hielt: Der angebliche antisemitische Überfall auf ein junges Mädchen war nur vorgetäuscht. Regisseur André Téchiné hat sich ganz bewusst dafür entschieden, die Frage nach dem Warum offen zu lassen. Das mag gut sein für die öffentliche Debatte, ist aber schlecht für den Film, Jeanne (Emilie Dequenne) ist eigentlich ein glückliches junges Mädchen. Wie sie so auf ihren Inlinern durch die Straßen rollt, spiegelt viel von ihrem momentanen Leben: gefestigt, entspannt in sich ruhend, aber zugleich ein wenig ziellos und auf der Suche. Mit ihrer Mutter Louise (Catherine Deneuve) hat sie ein gutes, fast freundschaftliches Verhältnis. Dass sich Jeanne in einen stark tätowierten Ringer wie Franck verlieben würde, hätte man zunächst nicht vermutet. Draufgänger Franck ist in dunkle Geschäfte verwickelt und wirft Jeanne aus der Bahn, als er sie nach einem missglückten Drogendeal verstößt. In einer Art Blackout ritzt sich Jeanne die Haut auf und malt sich drei Hakenkreuze auf den Bauch. Sie geht zur Polizei und erzählt, sie sei in einem Pariser Vorortzug (RER) Opfer eines antisemitischen Überfalls geworden.
Die Geschichte ist tatsächlich passiert und Regisseur André Téchiné entnahm alle äußeren Fakten den öffentlich zugänglichen Informationen. Jedoch erfand er die inneren Motivationen der Figuren und ihr Beziehungsgeflecht. Dabei war es ihm ein Anliegen, die Rätselhaftigkeit von Jeanne zu bewahren. Während die reale Person angab, sie habe mit der Tat mehr Aufmerksamkeit von ihrer Mutter und ihrem Freund bekommen wollen, bleibt sich die Filmfigur selbst ein Rätsel. „Ich weiß es nicht“, sagt sie auf die Frage nach dem Warum.

Trotz faszinierender Bilder, toller Schauspieler und einem flüssig-eleganten Erzählstil stellt der Regisseur den Zuschauer mit dieser Art der Figurenzeichnung vor ein Problem. Wenn es keinen psychologischen, beziehungsmäßigen oder weltanschaulichen Grund für die Tat gibt, dann kann sie nur eine Dummheit gewesen sein. Etwas, das auf äußeren Druck und innere Verwirrung zurückzuführen ist, eine Trübung des Bewusstseins, vor der niemand wirklich gefeit ist, auch wenn er vielleicht in der konkreten Situation in eine andere Dummheit verfallen würde.

Das eigentlich Problematische wäre dann nicht Jeannes Blackout, sondern die öffentliche Reaktion darauf. Eine Art Hysterie, in die das kollektive Unbewusste damals geraten war, indem es nach solchen Schreckenstaten geradezu gierte und sich über die allgemeine Unsicherheit und die Feigheit derer erregte, die in der U-Bahn saßen und zuschauten. Aber einen Film, der diese Panik ins Zentrum stellen würde, hat Téchiné auch nicht gemacht. Die öffentliche Debatte zeigt er meist nur indirekt, indem irgendwo ein Fernseher läuft oder berichtet wird, dass sich nun der Elysée-Palast des Falles angenommen habe. So bleibt am Ende die Enttäuschung, dass einem optisch sehenswerten und spannenden Film die inhaltliche Substanz fehlt. Eigentlich, so scheint es, ist gar nichts gewesen. Außer dem Fauxpas eines netten Mädchens.

La Fille du RER

Bei vielen Gewaltakten, die eine ganze Nation in Aufruhr bringen, stellt sich die Frage nach dem Warum. Noch rätselhafter ist eine Tat, die im Jahr 2004 halb Frankreich in Atem hielt: Der angebliche antisemitische Überfall auf ein junges Mädchen war nur vorgetäuscht.
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