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Weißrussland, 1943: Im dritten Jahr der deutschen Besatzung buddelt Florja am Strand nach Waffen und Munition. Denn er der pubertierende Junge will sich dem Partisanenkampf anschließen. Was als vermeintliches Abenteuer beginnt, führt ihn mitten hinein in die NS-Gräuel eines SS-Sonderkommandos.

Komm und sieh (1985)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Schrecklich schön

Elem Klimows ebenso berühmter wie berüchtigter (Anti-)Kriegsfilm Komm und sieh trifft einen auch 35 Jahre nach seiner Uraufführung auf dem Moskauer Filmfestival wie ein dumpfer Faustschlag in die Magengrube. Man taumelt nach diesem immensen audiovisuellen Bombardement regelrecht benommen, ja stundenlang wirklich verwirrt, aus dem Kinosaal. Dagegen wirken filmhistorisch relevante wie künstlerisch ambitionierte Referenzfilme des dazugehörigen Genres à la Michael Ciminos „Die durch die Hölle gehen (1978), Oliver Stones „Platoon“ (1986), Steven Spielbergs „Der Soldat James Ryan“ (1998) oder Terrence Malicks „Der schmale Grat (1998) wie heitere Kindergeburtstagsnachmittage. 

Denn selbst wer dieses synästhetische Filmmonstrum früher schon einmal auf der großen Leinwand gesehen hat und hoffentlich nicht nur als völlig missratene DVD-Edition aus dem Hause Icestorm Entertainment, wird sich (auch) während der (Neu-)Sichtung ein ums andere Mal (von Neuem) fragen: Wann muss ich – zum vermeintlichen Selbstschutz – wirklich stoppen und den Kinosaal fluchtartig verlassen? Wie schlimm wird es jetzt gleich wieder in der nächsten Szene werden? Und wie sehr darf ein filmisches Gesamtkunstwerk, wie es Klimows letzter Film Komm und sieh bis zum heutigen Tag geblieben ist, tatsächlich wehtun und sich parallel irreversibel in das individuelle Langzeitgedächtnis einbrennen? 

Nach dem tragischen Unfalltod seiner Frau Larisa Shepitko 1979, die mit Flügel (1966) und Aufstieg (1977) selbst zu einer der bemerkenswertesten Regisseurinnen des Sowjetfilms nach 1945 avanciert war, und der Fertigstellung ihres letzten gemeinsamen Filmprojektes Abschied von Matjora (1979-1982) begann Klimow zu Beginn der 1980er Jahre und damit mitten im Kalten Krieg mit der Realisierung seines zeitlosen Meisterstücks. Darin erzählt der 1933 im damaligen Stalingrad geborene Klimow nach Ales Adamowitschs Romanvorlage Die Erzählung von Chatyn (1971) das tragische Schicksal eines pubertierenden Jungen (unvergesslich: Aleksei Krawtschenko) während der NS-Besatzung Weißrusslands im Jahr 1943.

Als halbstarker Knirps, mehr Junge als Jugendlicher, gräbt Florja zu Beginn dieser ebenso manieristisch-lyrischen wie kompromisslos-unerträglichen 144 Minuten, die nun endlich in vorzüglich restaurierter und ungeschnittener Fassung als Wiederaufführung im Kino zu sehen sind, in einer Sandbucht nach Kriegsgewehren und Munition. Gegen den Willen seiner Mutter ist er fest entschlossen, sich den hiesigen Partisanenverbänden anzuschließen und sie im Kampf gegen die deutschen Faschisten zu unterstützen, auch wenn die ihn zuerst verbal schneiden und eigentlich gar nicht rekrutieren wollen.

Zurückgelassen im provisorischen Waldlager begegnet Florja kurzzeitig dem älteren Mädchen Glascha (Olga Mironowa). Beide kommen sich zögerlich näher, ehe die ersten Schüsse fallen, NS-Fallschirmjäger abspringen und das Partisanenversteck durch deutsche Bomben schließlich in Flammen aufgeht. Prompt beginnt ihre gemeinsame Flucht auf der Suche nach Florjas Mutter und seinen Schwestern durch dichte Wälder und die schlammige Morastlandschaft der Prypjatsümpfe. Wieder angekommen im Elternhaus seines Heimatdorfs ist es totenstill: niemand hat die Ankunft eines SS-Sonderkommandos überlebt, das sich in der Roman- wie in der Drehbuchvorlage sehr nah an das Massaker in Chatyn anlehnt.

Dort wurden in einem barbarischen Vergeltungsakt durch die SS sämtliche Bewohner in der Dorfkirche bei lebendigen Leib verbrannt und deren Häuser dem Erdboden gleichgemacht: Massenerschießungen, Plünderungen und Massenvergewaltigungen inklusive, so wie sie unter dem realem Terrorregime der SS-Sondereinheit Oskar Dirlewangers, eines „braven Schwaben“ (Heinrich Himmler) und weiterer Sonderkommandos der Waffen-SS, inzwischen über 600-fach alleine in Weißrussland dokumentiert sind. Darauf wird auch im Abspann dieser nicht selten schwer verdaulichen, dennoch jederzeit überwältigenden Höllenfahrt explizit hingewiesen.

Als dann Komm und sieh schließlich zur einsetzenden Sowjetsystemdämmerung durch den Amtsantritt Gorbatschows in die Kinos kam, wurde Klimows filmisches Vermächtnis in seiner Heimat einhellig bejubelt und von gut 30 Millionen Russen gesehen. Auch westliche Filmkritiker wie Roger Ebert zollten Klimows brutalem Gestaltungswillen, der auf radikalen Subjektiven und bildfüllende Close-ups (Bildgestaltung: Alexei Rodionow) fußt, ohne Pardon Tribut: „Dieser russische Filme von 1985 ist einer der niederschmetterndsten Filme aller Zeiten. Ich kenne kaum einen anderen, der das menschlich Böse schonungsloser zeigt.“ Dieser klugen Einschätzung durch den Doyen der amerikanischen Filmkritik ist im Kern weiterhin nichts hinzuzufügen. Außer: unbedingt ansehen – und nie mehr vergessen. 

Komm und sieh (1985)

Weißrussland, 1943: Florja, noch mehr Kind als Jugendlicher, buddelt am Strand nach alten Gewehren, um endlich Partisan werden zu können. Als er fündig wird, lässt er sich trotz Flehens seiner Mutter rekrutieren und zieht stolz in den Kampf. Der kindliche Traum von Heldentaten und Abenteuer zerplatzt allerdings schon bei der Ankunft im Truppenlager, denn der Kommandant will ihn beim Einsatz nicht dabeihaben. Und so beginnt für ihn auf seinem Rückweg eine Odyssee, die ihn in nur wenigen Tagen mitten in die Hölle des Zweiten Weltkriegs führt.

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Meinungen

Alexander · 03.11.2020

Danke für diese Kritik! Der Film hat mich tatsächlich sehr bewegt und war zeitweise sehr schwer zu ertragen, aber Klimow hat für die unerträglichen Gräuel eine sehr überzeugende und wirkungsvolle Bildsprache wie Erzählweise gefunden. Den Schluss der Kritik möchte ich jedoch etwas bekritteln, denn dieser macht den Diskurs über den Film doch allzu vorschnell zu. Gerade weil wir es hier mit historisch belegten Ereignissen zu tun haben, steckt sicher viel mehr in diesem Film als nur ein Statement gegen den Krieg. Direkt nach dem Film wäre ich allerdings außer Stande gewesen, über das Gesehen zu diskutieren.