Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte (2009)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Haarsträubende Skandale

„Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank“, fragte einst Bert Brecht. Und wie ein Verwandter im Geiste beginnt Michael Moore seinen Film mit einem Bankraub. Keine Frage: Dies sind zwei vergnügliche Stunden für alle, die schon lange ihre Wut auf die Schuldigen der Finanzkrise loswerden wollen. Wer sich bislang fragte, wie die Bösewichter aussehen, die den Hals nicht voll kriegen konnten, bekommt vom bekennenden Polit-Agitator eine konkrete Antwort. Moore nennt ihre Namen und zeigt ihre Gesichter. Herausgekommen ist eine Dokumentation, wie sie seine Fans mögen: aufwühlend, bissig, unterhaltsam und gnadenlos polemisch.

Nach seinem eigenen Bekenntnis wollte der Mann mit der Baseball-Mütze einen anderen Film abliefern als bisher. Eine Summe aus 20 Jahren Protest sollte es werden, ein neues Verweben all der Fäden, die schon in seinem Erstling Roger and Me (1989) angelegt waren und die er seither weitergesponnen hat. Nicht einzelne Teile des Systems wollte Moore diesmal angreifen – die Arbeitswelt, den Waffenbesitz (Bowling for Columbine, 2002), die politische Korruption (Fahrenheit 9/11, 2004) oder das Gesundheitssystem (Sicko, 2007). Nein, in dieser Dokumentation geht Moore aufs Ganze. Er will das System als solches demontieren, das Gier, Korruption und Egomanie wuchern lässt. Daher der umfassende Anspruch, der schon im Titel deutlich wird: Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte / Capitalism: A Love Story.

Zum Glück ist es kein Film über ein Gesellschaftsmodell geworden, kein Oberseminar für angehende Soziologen, kein Essay, der sich in seinen eigenen Gedankenlabyrinthen verirrt. Michael Moore zielt nicht aufs abstrakte Ganze, sondern auf konkrete Missstände. Er zeigt uns Leute mit unglaublichen Schicksalen, er bringt Menschen dazu, sich um Kopf und Kragen zu reden, er stellt naive Fragen und kommt dadurch an haarsträubendes Material. Kurzum, dieser Film unterscheidet sich in seiner Machart kaum von den anderen – und das ist gut so.

Der Fokus liegt diesmal auf der Immobilien- und Finanzwelt. Moore geht zu den Menschen, die ihre Häuser verlieren. Er schaut sich um, spricht mit den Menschen, fängt ihre Verzweiflung ein. Das ist wie immer seine große Stärke: den abstrakten Nachrichten und Statistiken, die uns schon lange abgestumpft haben, ein Gesicht zu geben. Wer die Fassungslosigkeit dieser hart arbeitenden Mittelschichtfamilie gesehen hat, die nach vier Jahrzehnten ihr Haus verlassen muss, den werden Stichworte wie Hypotheken, Zinsen und Zwangsversteigerungen nie mehr kalt lassen.

Nach der Immobilienkrise greift Moore ein paar weitere Skandale auf. Die haben mit den Immobilien nichts zu tun, aber sie bilden ein geheimes Kraftzentrum des Films. Besonders gut ist Moore nämlich immer dann, wenn er Geschichten aufdeckt, die noch nicht so bekannt sind wie die Not der Hausbesitzer in den USA und die man eigentlich nicht glauben möchte. Etwa wenn er erzählt, wie eine Privatfirma ein Jugendgefängnis baut und bestochene Richter dann dafür sorgen, dass das Gefängnis gut gefüllt ist. Oder wie Firmen Risiko-Lebensversicherungen für ihre Mitarbeiter abschließen, bei denen die Summe im Todesfall an das Unternehmen ausgezahlt wird – nach dem Motto: Ein toter Mitarbeiter ist wertvoller als ein lebender.

Wie immer ist Moore ein Meister der emotionalisierenden Montage. Wie die einzelnen Episoden ineinander geschnitten sind – das ist nicht nur unterhaltsam, sondern äußerst suggestiv, um nicht zu sagen manipulierend. Der Entertainer unter den Dokumentarfilmern stimmt uns mit vorbereitenden Skandalen ein auf das, was wir ja eigentlich schon lange geahnt haben: dass ein paar wenige durch die fatalen Finanzspekulationen unvorstellbar reich wurden. Und dass sie das nur konnten, weil ein Finanzriese wie Goldman Sachs eigene Leute im Finanzministerium platzierte, die dann genau die Gesetze und Deregulierungen vorbereiteten, die die gesamte Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds brachten.

Moores Weltsicht ist wie immer schwarz und weiß, gut und böse. Das ist ihre Stärke – die polemische Wucht – und auch ihre Schwäche – die Überzeichnung bis hin zur Falschaussage, etwa wenn behauptet wird, in Deutschland könnten Mitarbeiter ihre Chefs entlassen. Aber noch nie hat uns Moore so tiefe Einblicke in seine religiösen Motive gegeben. Immer wieder spricht er mit Priestern und sogar einem Bischof. Da wird plötzlich klar, woraus sich die enorme moralische Wucht seiner Pamphlete speist: Kapitalismus ist Sünde. Genauso böse wie die Gründung einer Bank.
 

Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte (2009)

„Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank“, fragte einst Bert Brecht. Und wie ein Verwandter im Geiste beginnt Michael Moore seinen Film mit einem Bankraub. Keine Frage: Dies sind zwei vergnügliche Stunden für alle, die schon lange ihre Wut auf die Schuldigen der Finanzkrise loswerden wollen. Wer sich bislang fragte, wie die Bösewichter aussehen, die den Hals nicht voll kriegen konnten, bekommt vom bekennenden Polit-Agitator eine konkrete Antwort.

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