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Dominik Graf verfilmt das Sachbuch „Jeder schreibt für sich allein“ von Anatol Regnier als formal komplexen Essay über Widerstand und Anpassung im Dritten Reich. Was muss der Künstler tun, wenn die Kunst nichts darf?

Jeder schreibt für sich allein (2023)

Eine Filmkritik von Janick Nolting

Die Verantwortung der Zurückgebliebenen

Dominik Graf setzt dort an, wo der Gang vor die Hunde an sein Ende stieß. Oder doch eher: Wo er erst so richtig begann? Wo er nicht enden will? In Grafs Meisterwerk „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ scheiterte einer im Fluss der Zeit, versunken in der Strömung des aufkommenden Nationalsozialismus und den Unruhen der Epoche. Das Ende einer Ära. Zum Schluss standen Bücher und Leinwand in Flammen. In seinem neuen Werk „Jeder schreibt für sich allein“ taucht das Bild der brennenden Bücher wieder auf. Wie konnten Menschen diesen Anblick ertragen? Das ist eine Frage des Films. Sie betrifft nicht nur den Schriftsteller Erich Kästner, dessen Werke ebenfalls auf dem Scheiterhaufen brannten.

Von der Weimarer Republik führt Grafs Filmessay mitten hinein in das Dritte Reich. Eine politische Katastrophe, betrachtet aus Sicht der Kunst, insbesondere der Literatur. Der Versuch einer Annäherung an die Psychologien der Zeit. Jeder schreibt für sich allein holt dafür Schriftstellerinnen und Schriftsteller ins Rampenlicht, die während des NS-Regimes in Deutschland blieben. Erich Kästner spielt natürlich eine zentrale Rolle, Graf kehrt unter anderem noch einmal zu Fabian zurück. Gottfried Benn, Hans Fallada, Will Vesper sowie Ina Seidel formen ein Kaleidoskop an Positionen und Verhaltensweisen zur Nazi-Herrschaft.

Graf hat damit das gleichnamige Sachbuch von Anatol Regnier adaptiert. Jeder schreibt für sich allein führt weit über das Rekonstruieren von Lebensgeschichten und -Erfahrungen hinaus. In üppigen drei Stunden verschmelzen diverse Materialien, Formen, Fragen, Gedanken zu einem komplexen Kino-Geflecht. Regnier selbst steht dabei im Zentrum. Graf schickt ihn erneut auf Spurensuche, die im Marbacher Literaturarchiv beginnt. Akten werden geöffnet. In einem Mix aus Interviews, Fotografien, bewegtem Archivmaterial, Spielfilmszenen und Ortserkundungen stehen nun Lebenswerk und Karriere von Kästner, Benn und Co. auf dem Prüfstand. Graf gelingt damit eine beachtliche Studie über Eigensinn in einem verbrecherischen System. Wo verlaufen dessen Grenzen? Eigensinn heißt immer auch: das Bestehende als Realität anerkennen, in der man sich bewegt. Aber ab wann formt man den Status quo aktiv mit?

Der Historisierungsprozess, den Graf schon in seinem Fabian so eindrucksvoll auf die Leinwand brachte, erscheint in Jeder schreibt für sich allein noch einmal in seiner ganzen Verschachtelung. Sein Forschen richtet sich an das Vergangene und geht zugleich von gegenwärtigen Fortsätzen und Spuren aus. Letztere machen gleich in den unheimlichen ersten Bildern auf sich aufmerksam. Schuhe liegen da einsam auf der Straße und im Dreck. Was ist mit ihren Besitzern geschehen? Es geht um das symbolische Erbe. Das, was Kryptisches vorfindet und sich, von der Quelle ausgehend, einen Kontext zusammensetzen muss. Und es geht um Gespenster, Unsichtbare, die nicht verschwinden wollen.

So ist das Reflektieren in Jeder schreibt für sich allein immer auch mit dem Unergründeten verbunden. Interviewtöne und Visualisierungen erscheinen oft in verengten Bildkacheln, umgeben von Schwärze. Wissen und Nicht-Wissen gehen Hand in Hand. Sprechende Köpfe teilen sich zudem in doppelte Perspektiven auf, die simultan projiziert werden. Graf inszeniert sie aus verschiedenen Blickwinkeln. Das Austarieren von Grauzonen, Ambivalenzen und Widersprüchen schreibt sich so eindrucksvoll in die Ästhetik ein.

Worte treten in Konflikt und Austausch mit visuellen Codes: Oben im Bild erzählt jemand vom Aushalten und Hoffen, die Gräuel der Zeit mögen vorübergehen. Darunter flackern Bilder eines Heimatfilms. Und daneben: wieder Schuhe. Nur dieses Mal aufgetürmt, zahllos. Es sind die Hinterlassenschaften von Ermordeten eines Konzentrationslagers. Kunst und Verantwortung, Werk und Autor, Wegsehen und Gewalt: aufgeladene Schlagworte, die Graf provokant zur Debatte stellt.

Wo sich dieses Konzept etwas in den eigenen sprunghaften Gedanken verliert, ist das letzte Drittel des Films. Jeder schreibt für sich allein bewegt sich schließlich über die NS-Zeit hinaus. Generationen streiten über Schuld und Verantwortung. RAF und Radikalisierung drängen in den Vordergrund. Vieles erscheint da etwas unreflektiert und fragmentiert in den Raum geworfen. Graf lässt O-Töne weitgehend unkommentiert, die die Empathielosigkeit der RAF mit jener der Nazis parallelisieren. Sein Film warnt vor totalitären Tendenzen, die bei der Beurteilung von Menschen kein Sowohl-als-Auch mehr sehen wollen.

In der Kürze und Zuspitzung, mit der solche Aussagen getätigt werden, liegt die Grenze zur historischen Relativierung gefährlich nahe. Vielleicht muss man diesen finalen Akt aber auch einfach als Teaser und unvollendete Überleitung zu einem nächsten Akt in Dominik Grafs Filmkosmos sehen? Vielleicht setzt er sich demnächst erneut in Bewegung, um auf dem Zeitstrahl deutscher Geschichte weiterzurücken, ihre Bilder und Ikonen zu befragen. Formal befindet sich der Regisseur jedenfalls auf der Höhe seines Schaffens.

Jeder schreibt für sich allein (2023)

Konnte man ein guter, gar überragender Schriftsteller sein und sich dennoch mit dem nationalsozialistischen Regime arrangieren? Um diese Frage geht es im Dokumentarfilm Jeder schreibt für sich allein von Autor Constantin Lieb und Regisseur Dominik Graf. Basierend auf dem gleichnamigen Sachbuch von Anatol Regnier nähert sich der Dokumentarfilm den zwischen 1933 und 1945 in Deutschland gebliebenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller Hans Fallada, Gottfried Benn, Erich Kästner, Ina Seidel und Hanns Jobst. Welche Haltung entwickelten sie dem Nationalsozialismus gegenüber in ihrem Schreiben, Denken und Empfinden? Wo stehen sie im Kontrast und Konflikt mit bekannten Exilautorinnen und -autoren wie den Manns, Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger?
(FFF Bayern)

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