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Von einem wundersamen Minimalismus getrieben, sind Quentin Dupieux‘ Filme Meisterwerke einer absurden Alltäglichkeit. „Incredible But True“ fragt nun: Wie fühlt sich das eigentlich an, nicht mehr zu verstehen, was los ist?

Incredible But True (2022)

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Bitte beachten Sie das Kleingedruckte Ihres Zeitschachts

Die Filme von Quentin Dupieux sind minimalistische Erkundungen absurder Welten. Schon sein Durchbruch, als Musiker unter dem Pseudonym Mr. Oizo, erfolgte mit dem klaren, repetitiven Sound von Flat Beat, und seine Spielfilme folgen seither dem Prinzip einfacher und streng durchgezogener Ideen: ein Autoreifen, der mordet („Rubber“, 2010); ein Verhör, das den Rahmen normaler Zeit verlässt („Die Wache“, 2018); oder eine Fliege, die sehr, sehr groß ist („Mandibules“, 2020). In seinem aktuellen Film „Incredible But True“ ist dies: ein Schacht in einem Keller, der drei Tage jünger macht und zwölf Stunden in die Zukunft reisen lässt.

Marie und Alain (Léa Drucker und Alain Chabat) kaufen gemeinsam ein Haus. Bei der Besichtigung zeigt ihnen der Makler (Stéphane Pezerat) jedoch ein besonderes Highlight des schönen Anwesens: Im Keller ist ein Schacht, der nach unten führt, in tiefe Schwärze. An seinem Ende liegt wieder das Wohnzimmer im Erdgeschoss, allerdings zwölf Stunden in der Zukunft. Als Marie erfährt, dass der Schacht gleichzeitig noch alle, die durch ihn klettern, drei Tage jünger macht, kann sie ihr Glück kaum fassen. Alain bleibt jedoch skeptisch – und ist gedanklich viel mehr damit beschäftigt, dass sein unangenehmer Chef und bester Freund Gérard (Benoît Magimel) sich einen elektronischen, App-gesteuerten Penis hat implantieren lassen.

Ja, einen vollelektronischen Penis mit App-Steuerung, Teleskopfunktion und (!) eingebauter Kamera. Gérard und seine jüngere Freundin Jeanne (Anaïs Demoustier) sind von diesem Fortschritt der Technik enorm begeistert, Alain wirkt jedoch vor allem verwirrt. Sind die Hoden dann eigentlich auch elektronisch? Vor allem aber der mentale Zustand seiner Frau beschäftigt ihn: Sie verbringt nun fast jede Nacht damit, durch den Schacht zu klettern, zwölf Stunden in die Zukunft zu reisen und dabei drei Tage jünger zu werden. Dass Alain sich noch um so etwas Belangloses wie Arbeit und Hauskredit kümmert, ist ihr unverständlich. Sie verfolgt ohne Unterlass den Traum, wieder zwanzig zu sein und Model zu werden.

Es zeigt sich bald, dass der Schacht neben dem obsessiven Verlangen, das er auslösen kann, noch andere Nachteile hat. Auch Gérards Prototyp-Penis aus Japan wird zu einem Problem, als er ihn versehentlich beschädigt. Jeanne hätte gerne mehr Sex, und Alain will vor allem seine Ruhe, während er an seiner Büroarbeit zu ersticken droht. Incredible But True ist auf sehr deutliche Weise ein Film über menschliche und alltägliche Besessenheit: Schönheit, Jugend, Sex, Status, Geld, Arbeit. Und die Moral von der Geschichte? Maßloses Streben macht auch nicht glücklich, sondern führt meistens eher ins persönliche Verderben.

Doch darum geht es natürlich nicht. Die gerade einmal 74 Minuten des Films sind vor allem von der Neugier getrieben, was es denn eigentlich hieße, diese in den Raum gestellten Ideen auch wirklich konkret vor Augen zu führen und zu erleben. Was passiert denn mit Menschen, wenn sie vor die Herausforderung gestellt werden, zu verstehen, dass sie gleichzeitig zwölf Stunden in die Zukunft reisen und drei Tage jünger werden können? Was macht es denn mit jemandem, nicht nur Smartphones und Tablets und Wearables mit sich herumzutragen und beim kleinsten Anzeichen eines Defekts wegzuwerfen und zu ersetzen, sondern einen elektrischen Penis zu besitzen? Die wichtigste Frage, die sowohl den Zeitschacht wie auch den App-Penis betrifft, stellt dabei (natürlich) der Immobilienmakler: Haben Sie etwa die AGB nicht gelesen?!

Wörtlich genommen ist das alles nicht so wahnsinnig interessant: Wir leben irgendwie alle in einer Welt, in der wir unsere verschiedensten Begierden und Sehnsüchte mit uns herumschleppen, aber nur noch Ersatzgeräte finden, mit denen wir diese bestenfalls an der Oberfläche befriedigen können, während sich in unserem Inneren ein Ameisenhaufen einnistet. (Haben Sie die AGB gelesen? Es könnte sein, dass sich im Inneren von Menschen spontan Ameisen bilden.) Abseits so direkter Interpretationen liegt der große Genuss des Films vielmehr in der Kompromisslosigkeit, mit der Dupieux seine Arrangements verfolgt. Es ist nur konsequent, dass der Film die langfristigen Folgen der Ideen gar nicht weiter ins Auge nimmt und stattdessen eine famose, ausufernde, mit Bach unterlegte Zeitraffung einfügt, um all das abzuhandeln, was sich nun auch gut von selbst erzählen kann.

Spannend ist also nicht, auf welche Weise sich die Symbole und Referenzen des Films ausdeuten lassen – spannend ist, was konkret in Situationen mit Menschen passiert, wenn sie nicht mehr die richtigen Worte finden, um ihre Lage zu beschreiben. Mehr als einmal ergeht Incredible But True sich darin, das Stammeln seiner Figuren auszukosten, ihre körperliche Sprachlosigkeit im Angesicht einer plötzlich alltäglich gewordenen, grotesken Welt in den Mittelpunkt zu stellen. Eine ästhetische Neugier treibt den Film an: Wie sieht es aus, wie fühlt es sich an, wenn die Welt plötzlich eine andere ist und die Menschen darin keinen Zugang mehr zu ihren eigenen Vorstellungen von dem finden, was gewöhnlich ist, selbst wenn es so direkt und real vor ihnen steht? Es ist die Kunst der Filme von Quentin Dupieux, dieser Verschiebung mit großem Ernst und großer Freude Bilder zu geben.

Incredible But True (2022)

Auf der Suche nach einem neuen Heim besichtigen Alain und Marie ein Haus in einem ruhigen Vorort. Der Makler warnt sie vor etwas, das sich im Keller verbirgt und ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Fasziniert entscheidet das Paar sich zum Kauf. Als Alains forscher Chef mit seiner Freundin zum Dinner kommt, ist die Versuchung groß, die unglaublichen (aber wahren!) Informationen zu teilen. Doch Marie ist entschlossen, das Geheimnis des Kellers für sich zu behalten. Sie kann nicht anders, als immer wieder hinunterzugehen … 

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