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Ayşe Polats „Im toten Winkel“ ist ein verschachtelter Spionage-Thriller, der zugleich als Allegorie über die Geister der Vergangenheit in einer traumatisierten Region funktioniert.

Im toten Winkel (2023)

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Versteckte Kamera

Die Figur des Geists ist immer ein Zwischenwesen: zwischen Leben und Tod, zwischen sichtbar und unsichtbar. Ein Geist kann außerdem die Zeit durcheinanderbringen wie in der Formulierung „Geister der Vergangenheit“ oder in Jacques Derridas Begriff der „Hauntologie“, der Gegenwarten beschreibt, in denen Vergangenheiten spuken. Die Musik des britischen Produzenten Burial zum Beispiel ist damit beschrieben worden, denn sie klingt wie heimgesucht von den Gespenstern der britischen Rave-Kultur der Neunzigerjahre – als würde man in der Ruine eines abgerissenen Clubs stehen und im Kopf blasse Erinnerungen an vergangene Partys abspielen.

Ob Dokumentarfilmerin Simone (Katja Bürkle) mit dem Konzept vertraut ist? Sie ist eine Figur in Ayşe Polats Film Im toten Winkel. Im Nordosten der Türkei recherchiert sie zu verschwundenen Menschen, mutmaßlich vom türkischen Geheimdienst JİTEM verschleppt, und verwendet dabei den Begriff „immaterielle Denkmäler“. Was sie damit meint: Die Angehörigen dieser unsichtbaren, aber nicht sicher toten, also gespenstischen Menschen, setzen ihnen Denkmäler durchs Erinnern und Hoffen.

Im toten Winkel beginnt als filmische Meta-Reflexion und wandelt sich schließlich zu einem doppelbödigen Spionage-Thriller. Schon die erste Szene etabliert drei Ebenen: Neben Film-im-Film-Bildern des Dokumentarfilmteams sieht man auch, dass die Dreharbeiten aus einem Auto beschattet werden, und auch Geheimdienstler haben selbstverständlich Kameras im Einsatz. Bald schon kann das Publikum nicht mehr sicher sein, ob es nun Simones Kameramann ist, Ayşe Polats Kameramann Patrick Orth oder eine dritte Perspektive, die den Blick lenkt. Das Konzept Geist ist in mehrfacher Weise auf den Film anwendbar. Einmal bekommt Hatice, die Mutter eines Verschwundenen, von Simone die Regieanweisung, sie solle die Kamera wie einen Geist behandeln. Oft blickt das Publikum durch versteckte Kameras, mutmaßlich von Überwachern installiert. Oder sind es doch die Perspektiven heimsuchender Geister?

Durch die dokumentarischen Bilder im ersten Akt des Films, die den Alltag in einem Dorf zeigen, in dem die Zeit wie stehengeblieben wirkt, setzt Polat selbst ein „immaterielles Denkmal“. Nach 30 Minuten wechselt der Film dann plötzlich die Hauptfigur. Die Handlung beginnt erneut: „Kapitel 2“. Vorher hat es keine Kapiteleinblendung gegeben. Nun wird Im toten Winkel zum Spionage-Thriller, und die Film-im-Film-Aufnahmen bekommen eine neue Bedeutung. Anstelle der Dokumentarfilmaufnahmen sorgen vertikale Handybilder für die Multiperspektivität. Die Stalker filmen ihre Opfer, schicken ihnen dann zur Einschüchterung das Material. Selbst der Geheimdienstler Zafer (Ahmet Varlı) wird verfolgt, erhält derartige Videoaufnahmen von sich selbst und fürchtet um sein Leben. Seine Tochter Melek (Çağla Yurga) trat schon im ersten Kapitel auf und hält die Geschichte zusammen. Sie scheint Dinge zu wissen. Ist die Person, von der sie spricht, wirklich nur ein „unsichtbarer Freund“, oder wird sie manipuliert?

JİTEM ist ein Geheimdienst, dessen Existenz der türkische Staat leugnet. Ayşe Polat gibt dieser inoffiziellen Organisation Gesichter, baut sogar eine Szene ein, in der die Agenten auf Polizisten treffen – eine Szene, die subtil impliziert, dass der türkische Staat sehr wohl involviert ist. Mit Im toten Winkel ist es ihr gelungen, Politik, Medientheorie und Genrekino zu verschränken, und es ist keine Begleitbroschüre nötig, damit der Film funktioniert, denn er ist trotz aller Komplexität hochspannend.

Im toten Winkel (2023)

In einer abgelegenen Stadt im Nordosten der Türkei versucht ein deutsches Filmteam, einen Dokumentarfilm zu drehen, während sich ein türkischer Überwachungsagent mit scheinbar mystischen Kräften auseinandersetzt, die seine kleine Tochter verfolgen. Während sich ihre Geschichten verflechten, entfaltet sich ein komplexes Netz aus Verschwörung, Paranoia und Traumata.

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