Im Alter von Ellen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Expeditionen ins Tierreich

Wäre diese Frau nur ein klein wenig souveräner, könnte man sie beinahe für eine Schwester im Geiste des Vielfliegers Ryan Bingham (George Clooney) in Jason Reitmans famosem Film Up in the Air halten. Wie ihr amerikanischer Leidensgenosse, so ist auch Ellen (Jeanne Balibar) beinahe ständig in der Luft, was bei ihrem Beruf als Flugbegleiterin freilich wenig verwundert. Das Unbehauste und die Mühen des dauernden Unterwegsseins, die Bingham noch zu einer Philosophie der Leichtigkeit gedrechselt hat, sind für die Französin längst einer bedrückenden Angelegenheit geworden. Dann konkretisiert sich das bis dahin eher diffuse Unbehagen mit dem eigenen Leben und wird auf schmerzhafte Weise real: Bei einem Arztbesuch erfährt sie eine niederschmetternde Diagnose (welche genau, darüber schweigt sich der Film aus). Und weil ein Unglück selten allein kommt, gesteht Ellens österreichischer Freund Florian (Georg Friedrich) ihr dann noch ein, dass er nebenbei eine Geliebte hat, die ein Kind von ihm erwartet.
Gut möglich, dass man all diese Schicksalsschläge in jüngeren Jahren besser verkraften könnte. „Im Alter von Ellen“ ist das aber eine echte Katastrophe und verstärkt sich zu einer Lebenskrise, die die knapp vierzigjährige zierliche Frau zunächst völlig hilflos zurücklässt. Wo soll sie denn jetzt hin? Was soll sie nur mit ihrem Leben machen? Die ersten Schritte in die neue Freiheit gleichen mehr einem Stolpern, dem ein noch tieferer Fall zu folgen droht. Spontan und ohne lange nachzudenken hängt Ellen nun auch noch ihren Job als Flugbegleiterin an den Nagel – was sie natürlich im nächsten Moment wieder bereut und am liebsten rückgängig machen würde. Doch dazu ist es zu spät.

Eher zufällig stößt Ellen auf eine Gruppe junger Leute, die sich als radikale Tierschützer entpuppen und schließt sich ihnen spontan an. Wobei sie weniger eine echte Überzeugungstäterin ist, als vielmehr nach einem Platz, einem Ziel in ihrem brüchig gewordenen Leben zu suchen scheint. Bei den Aktivisten lernt sie Karl (Stefan Stern) kennen, der sich sichtlich zu der älteren Frau hingezogen fühlt. Zwar werden seine Gefühle von Ellen nicht unbedingt erwidert, doch als Karl eine Heirat vorschlägt, um dem Wehrdienst zu entkommen, willigt sie ein. Je mehr sich Ellen aber ihrer neuen Umwelt und ihren neuen Freunden anpasst, desto mehr erkennt sie, dass sie letztendlich ihren eigenen Weg finden muss. Und der wird sie weit weg führen…

Wäre nicht die ganz grandios aufspielende Jeanne Balibar, die in ihrer Heimat Frankreich und auf diversen Festivals bereits vielfach als Schauspielerin ausgezeichnet wurde, würde man diesen Film bei oberflächlicher Betrachtung wohl um einiges schneller abhaken. Zwar wagt Pia Marais mit ihrer unkonventionellen Interpretation einer Frau auf der Suche nach sich selbst einiges (und damit ungleich viel mehr als viele andere deutsche Regisseure). Doch die einzelnen Elemente des Plots wollen sich nicht so recht zu einem stimmigen Bild zusammenfügen. Was bei Jason Reitmans Film über einen Vielflieger in der Krise noch elegant, flüssig und von süffisanter Ironie durchzogen daherkommt, gerät in Pia Marais Film sperrig und widerspenstig, ja widersprüchlich. Mal ist man sich des Ernstes von Ellens Lage bewusst und leidet mit ihr und ihren verzweifelten Versuchen, wieder Fuß im Leben zu fassen, dann kippt die Szenerie wieder ins Surreale und manchmal derb Überzeichnete, wenn die putzigen und struppigen Aktivisten beispielsweise wieder jeden Schritt bis ins kleinste Detail ausdiskutieren müssen. Solche unvorhergesehenen Wendungen sorgen zwar dafür, dass man eigentlich nie genau weiß, welche Finte als nächstes aus dem Hut gezaubert wird. Zugleich wirkt Marais unbändiger und manchmal fast anarchischer Erzählwille aber auch so unstet und unsicher wie die Protagonistin selbst; man weiß nie so ganz genau, ob die dünnen Fäden der Handlung nicht vielleicht doch in kongenialer Weise die Brüchigkeit von Ellens fragiler Welt illustrieren sollen.

Jeanne Balibar als Ellen sorgt dafür, dass man die Unwahrscheinlichkeiten und Widersprüchlichkeiten der Story zwar wahrnimmt, diese aber als Ecken und Kanten der Figur begreift und somit größtenteils akzeptieren kann. Wie sie mit minimalen Gesten und Handbewegungen, mit einem Zucken des Mundes und einem unsicheren Griff ins Haar, mit einem Blick und einem Halbsatz ganze Gefühlswelten erahnen lässt, das bereitet unbestreitbar viel Freude und lässt vieles, was Pia Marais einem im Laufe von 95 Minuten zumutet, im Nachhinein in einem ungleich milderen Licht erscheinen.

Am Ende ist man sich nicht sicher, ob die zierliche Stewardess die einzige Person ist, die im Verlauf des Films zu einem Tier gekommen ist. Es bleibt der Verdacht, dass Pia Marais mit diesem Film uns allen einen gewaltigen Bären aufbinden wollte. Ihr Film vereint vieles, was das deutsche Kino sonst niemals unter einen Hut bringt – er ist surreales Märchen, Sozial- und Individualstudie, Farce und philosophische Parabel auf Menschen am Scheideweg zugleich. Zugegeben: Allein die schiere Menge an Vorbildern, Anleihen, Motiven und Erzählhaltungen provoziert bereits die Gefahr des Scheiterns. Umso bewundernswerter, dass Pia Marais es dennoch versucht. Nicht nur in dieser Hinsicht gleicht ihr Film dem facettenreichen Charakter seiner Protagonistin in beinahe schon beängstigender Weise.

Im Alter von Ellen

Wäre diese Frau nur ein klein wenig souveräner, könnte man sie beinahe für eine Schwester im Geiste des Vielfliegers Ryan Bingham (George Clooney) in Jason Reitmans famosem Film „Up in the Air“ halten. Wie ihr amerikanischer Leidensgenosse, so ist auch Ellen (Jeanne Balibar) beinahe ständig in der Luft, was bei ihrem Beruf als Flugbegleiterin freilich wenig verwundert.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen