Log Line

Ein Heiratsantrag führt zur Beziehungskrise, Marie zieht sich zurück – und findet sich umgeben von Verkörperungen ihrer Gedanken. Zora Rux’ Debüt „Ich Ich Ich“ ist eine Studie der Widersprüche und Zweifel, Hoffnungen und Sehnsüchte in allerbestem Komödiengewand.

Ich Ich Ich (2021)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Gedankenmenschen

Hochzeitsfeier auf einem Schiff. Eine Menge Menschen beieinander zum freudigen Ereignis. Im Hintergrund des Festes, aber aufmerksam von der Kamera registriert: Ein frisch verliebtes, heftig turtelndes Pärchen: Julian, Bruder des Bräutigams (Thomas Fränzel), und Marie (Elisa Plüss). Beim Abendessen überkommt es Julian, angefeuert von der Stimmung macht er Marie einen Heiratsantrag. Und sie steht da. Und flüstert: Ich weiß nicht… Und zieht sich anderntags zurück auf den heimatlichen Hof im uckermärkischen Dorf, der ist verlassen und steht als Feriendomizil frei, dort kann sie ihre Gefühle ordnen und ihr künftiges Leben überdenken, dort kann sie alleine sein.

Alleine? Nein. Es sind viele, viele bei ihr: Denn Regisseurin Zora Rux findet in ihrem Langfilmdebüt Ich Ich Ich überzeugende und überraschende und überwältigende Momente, die den Zauber von Kino ausmachen und die dabei keine Mätzchen sind. Marie vor dem Kleiderschrank, sie zieht einen Pullover an. Und hinter ihr steht… – kurz: Marie ist umgeben von ihren Gedanken, von Gedankenmenschen, die auf sie einreden oder über sie reden oder einfach nur plappern. Die Tipps geben und lästern und auch mal poetisch die Situation zu begreifen und erzählen versuchen.

Gedankenmenschen – das ist eine fantastische Idee und sehr klug ausgeführt: eine Beziehung darzustellen über all die Momente und Impulse und Einflüsse, die einem durch den Kopf schießen. Marie trifft Verwandte – ihre Mutter! –, Freundinnen, einen verflossenen Liebhaber, viele weitere, die wir als Zuschauer gar nicht zuordnen können, die aber im Wirrwarr der Gedanken und Gefühle ganz logisch daherkommen – beziehungsweise ganz logisch herumsitzen. Das allmähliche Verfestigen der Gedanken als Personen ist hier bildlich zu erleben, Erinnerungen und Echos von früher manifestieren sich, Hoffnungen und Zweifel, Ratschläge und Sehnsüchte, Möglichkeiten und Alternativen werden für uns sichtbar – und manchmal nicht einmal für Marie (be)greifbar.

Zumal sich die Sache verkompliziert, denn Julian kündigt sich an. Marie freut sich, einerseits; hört zugleich die Mahnungen ihrer Gedankenmenschen. Und als er ankommt, hat er ebenfalls seine Gedankenverkörperungen im Schlepptau…

Und so hat Zora Rux ein kleines Wunder geschaffen: einen Film, in dem eigentlich nichts geschieht und der voll und prall ist, ein Film mit zwei Protagonisten und Figuren über Figuren. Vor allem Marie ist umkreist von der Choreografie ihrer Gedanken, die immer wieder auftauchen, irgendwo im Bild. Das ist für sie nicht störend oder ungewöhnlich, aber es erleichtert ihre Situation nicht gerade: Wie soll sie die Weichen für die Zukunft stellen? Will sie Julian, will Julian sie? Weiß er, wie sie wirklich ist, weiß sie es selbst? Ist sie bereit, und wenn ja, wofür? Will sie mit ihm schlafen, oder will sie mit ihm schlafen wollen? Und Julian, auf der anderen Seite: Er ist umgeben von Brüdern, Vater und Mutter, und von Natalia (Henriette Confurius), die hat er mal kennengelernt, die findet er attraktiv. Doch so verplant und im Moment verhaftet Julian auch scheint – zumindest manchmal für Marie: Er hat immerhin eine Gedankenpolizei, die Ordnung in die Dinge zu bringen imstande ist.

In knackigen 85 Minuten erzählt Zora Rux von zwei Menschen, die sich gefunden haben und sich nun entscheiden müssen. Sie und Kameramann Jesse Mazuch finden auf ganz einfache Weise unglaubliche Bilder, um psychologisch genau und spielerisch leicht das Innenleben auferstehen zu lassen. Das ist witzig und tiefgründig und durchweg spannend – so sehr, dass man sich über die eingebaute Filmpause umso mehr freut: ein paar Minuten, in denen sich das Publikum ganz mit sich selbst beschäftigen kann — und mit den eigenen Gedankenmenschen.

Ich Ich Ich (2021)

Marie ist völlig überfordert, als ihr Freund Julian ihr einen Heiratsantrag macht. Um ihre Gedanken zu ordnen, flüchtet sie sich aufs Land. Doch anstatt zur Ruhe zu kommen, wird sie von ihren personifizierten Gedanken, ihren „Gedankenmenschen“, überrumpelt. Sei es von ihrer Mutter, die Babynamen aufzählt, einer melancholisch dichtenden Dame im Sari oder ihrem Exfreund, der von Bäumen klettert. Alle reden ununterbrochen auf sie ein. Richtig kompliziert wird es, als Julian dort auftaucht – mit seinen eigenen „Gedankenmenschen“ im Schlepptau. (Quelle: Zurich Film Festival 2021)

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen