Hochburg der Sünden

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Freiheit tut weh

Auf einer Bühne spielen kann ein befreiender Prozess sein. Das ist leicht gesagt, aber manchmal brockenschwer. Zumindest wenn die Laiendarstellerin eine überzeugte Muslima ist und die Performance mit ihrem Glauben in Einklang bringen will. Über die Schmerzen der Befreiung hat Thomas Lauterbach einen sensiblen Dokumentarfilm gedreht – erstaunlich nah an seinen Protagonistinnen, aber gleichzeitig höchst respektvoll. Damit gewann er 2008 eine „Goldene Taube“ im deutschen Wettbewerb beim Leipziger Dok-Film-Festival.
17 Frauen türkischer Herkunft suchte das Staatstheater Stuttgart für die Medea-Inszenierung des Regisseurs Volker Lösch im Jahr 2007. Zum Vorsprechen kam auch Aysel, die einzige Kopftuchträgerin. Was sie dazu bewegte, hören wir aus dem Off, Aysels Stimme auf dem Anrufbeantworter. „Mir ist so langweilig, meine Söhne machen ihr eigenes Ding. Immer nur kochen und putzen, dazu habe ich auch keine Lust. Also jucken würde mich das Theaterspielen schon, auch wenn ich nicht weiß, was mein Mann dazu sagt.“

Knapper kann man die Aufbruchsstimmung der Hausfrau nicht zusammenfassen, die seit vielen Jahren in der schwäbischen Provinz ein gut situiertes und behütetes Leben führte. Und viel mehr erfahren wir auch nicht aus ihrem Familienleben. Statt dessen umso mehr über die inneren Probleme und Selbstzweifel, die die Erfüllung des Wunsches nach sich zieht, nach dem Dasein für andere nun etwas für sich zu tun.

Verschärft wird die Zerrissenheit zwischen Glauben und Selbstbestimmung dadurch, dass die Frauen vorab nicht wussten, wie Volker Lösch die Inszenierung anlegen würde. Der Medea-Text von Euripides wurde nämlich stark zusammengekürzt zugunsten von „fremden“ Texten. Die entstanden in Proben und Workshops, in denen die Frauen über ihr eigenes Leben sprachen, über Gewalterfahrungen, Demütigungen und das Leben in der Fremde. Dabei gelang es Lösch und seinen Mitarbeitern, sehr tief zu teils intimen und schambeladenen Erfahrungen vorzudringen. Diese Aussagen wurden verdichtet zu einem Text, der dann im Chor auf der Bühne vorgetragen wurde – sozusagen als kollektive Stimme der Medea von heute, einer Frau, die so lange getäuscht und erniedrigt wird, bis sie sich fürchterlich rächt.

Für Aysel ist diese Art des Theaters, in der auch Wörter wie „ficken“ und Sex auf der Bühne vorkommen dürfen, eine nicht zu beschreibende Herausforderung, ein offener Prozess mit ungewissem Ausgang. Und das Schöne an Hochburg der Sünden ist, dass er den Zuschauer mitnimmt auf die Reise, ohne aus der Vogelperspektive auf die Protagonistin zu schauen. Regisseur Thomas Lauterbach widersteht der Versuchung, einen modernen Standpunkt einzunehmen, von dem aus die Selbstbestimmung der Frau als das Natürlichste Welt erscheint – und jede Religion, die sie leugnet, nur als Steinzeit-Fundamentalismus.

Dadurch gelingen anrührende Szenen, bei denen man sich fragt, wie da eine Kamera dabei sein konnte. Etwa wenn sich Annabella um Aysel kümmert und sie mit ihren Ängsten ganz ernst nimmt, obwohl Annabella das glatte Gegenteil von Aysel zu sein scheint – selbstbewusst, emanzipiert und tabulos. Oder wenn die Frauen im Pausenraum unter sich sind und ungeschminkt über ihre Probleme mit der Inszenierung reden. Mit ihrer Meinung steht Aysel hier völlig isoliert da. Sie schockiert die anderen, wesentlich moderner eingestellten „Schwabotürkinnen“ etwa mit tief verwurzelten Ansichten wie „Männer sind die besseren Menschen“. Aber auf der Ebene der Körpersprache und der emotionalen Schwingungen bleibt Aysel sehr geborgen und aufgenommen in der Gruppe.

So geht auch der Film mit ihr um. Er begleitet sie mit all ihren Widersprüchen. Er legt offen, wie lebensfroh und mutig diese Frau ist. Aber er beschreibt auch, dass es keine einfache Lösung für ihre Probleme in der „Hochburg der Sünden“ gibt, als die sie das Theater einmal in einer Mischung aus Ironie und bitterem Ernst tituliert. Ohne Schmerzen kommt die Freiheit nicht zur Welt. Das ist eine Erkenntnis, die sowohl die Protagonistin wie der Zuschauer aushalten müssen.

Hochburg der Sünden

Auf einer Bühne spielen kann ein befreiender Prozess sein. Das ist leicht gesagt, aber manchmal brockenschwer. Zumindest wenn die Laiendarstellerin eine überzeugte Muslima ist und die Performance mit ihrem Glauben in Einklang bringen will.
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