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Stefan Ruzowitzkys neues Werk atmet den Geist von „Babylon Berlin“ und vermengt filmischen Expressionismus in der Tradition von Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ mit Computerspielästhetik zu einem zwiespältigen Film voller düsterer Postkartenansichten.

Hinterland (2021)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Babylon Wien

Der Erste Weltkrieg ist schon zwei Jahre vorbei, doch jetzt erst schafft es der Ex-Polizist Peter Perg (Murathan Muslu) zusammen mit einer Gruppen von Kameraden nach zwei Jahren Kriegsgefangenschaft in Russland zurück nach Wien. Doch die Stadt und auch das Land haben sich radikal gewandelt, die einstige Weltmacht, das Kaiserreich Österreich-Ungarn ist zusammengebrochen, und auf den Trümmern des Imperiums ist die Republik Österreich entstanden. Soldaten wie Perg und seine Kameraden, die dem Kaiser gedient haben, sind eher lästig, Dank haben sie keinen zu erwarten, Ruhm und Ehre sowieso nicht, und so werden sie direkt bei ihrer Ankunft und bei der Meldung beim Oberkommando aus dem Dienst entlassen und jeder ist auf sich gestellt. Einen Platz im Obdachlosenheim - mehr hat das Land seinen Söhnen nicht zu bieten. Und auf den Straßen, die überflutet sind mit Menschen, die vergessen wollen, und abgerissenen Kriegsversehrten, die um ein paar Krumen betteln, zeigt sich deutlich, welches Schicksal das neue Land für Kriegsheimkehrer bereithält. 

Perg hat Glück im Unglück — oder zumindest scheint es so, denn immerhin gibt es eine Familie und eine Wohnung, die auf ihn warten. Zumindest ein Teil davon wird sich aber als Trugschluss erweisen, denn als Perg in seinem Zuhause ankommt, erfährt er von seiner Concierge, dass die gnädige Frau und das gemeinsame Kind nicht mehr dort leben, sondern auf dem Land, wo es leichter ist durchzukommen als in der chaotischen Großstadt. Bald schon folgt der nächste Schock: Es beginnt eine unfassbar brutale Mordserie, die Perg ganz unmittelbar betrifft, denn jedes der Opfer kannte er aus dem Krieg. Da Perg früher selbst bei der Kripo war, bevor er sich freiwillig und voller Begeisterung für den Dienst an der Front meldete, ist es klar, dass sein Freund und früherer Kollege Victor Renner (Marc Limpach) ihn zu den Ermittlungen hinzuzieht. Dabei zeigt sich aber schnell, dass die Morde auf mehr als nur eine Ebene etwas mit Pergs Vergangenheit zu tun haben. Und von da an wird es sehr gefährlich… 

Zeitlich knapp zehn Jahre vor den Fällen von Volker Kutschers Babylon Berlin-Zyklus verortet, entwirft Hinterland eine faszinierende und bislang im Kino selten nur durchgespielte Ausgangssituation der frühen Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und versucht, diese auch auf stilistisch-ästhetischer Ebene sicht- und spürbar zu machen. Vom ersten Bild an lässt der Film keinen Zweifel daran, dass es ihm nicht um eine akkurates, historisch genaues Abbild der damaligen Realität geht, sondern um innere Bilder, um Seelenlandschaften, in denen sich die Gefühlswelt seiner Protagonisten - denn es geht in der Tat fast ausschließlich im die Welt der Männer - im Außen widerspiegelt und manifestiert. In den Stadtbildern sind die Fluchtlinien und Blickwinkel permanent gegeneinander verkantet, der Himmel so bleigrau, schwer und düster, die Gebäude derart stilisiert und die Passanten so derart jeglicher Farbigkeit beraubt, dass man sich abwechselnd in der Computerspielversion von Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari, auf einer exquisit ausgestatteten Theaterbühne oder der VR-Variante eines nach Wien verlegten Subplots von Babylon Berlin glaubt. Dass Liv Lisa Fries sowohl in der Serie wie nun auch in diesem Film mitwirkt — und das noch ein einer ähnlich angelegten Rolle -, verstärkt den Eindruck noch ein klein wenig mehr. 

Dabei trifft der Film nicht immer den richtigen Ton: Wenn die Kriegsheimkehrer nach Wien zurückkehren, zeigt er die Stadt als einen solchen Sündenpfuhl, dass beinahe schon erzkonservative bis völkische Stereotype vom Vielvölkermoloch bedient werden, ohne dass dem außer Schwärmerei von der guten alten Kaiserzeit viel entgegengesetzt würde. Die toxische, von soldatischem Ethos wie Pathos geprägte Männlichkeit, die wie ein Abbild des von Klaus Theweleit in seinem Buch Männerphantasien beschriebenen Typus des Freikorps-Kämpfers wirkt, ist zwar fragil und voller Brüche, wird aber niemals völlig entlarvt. Und von den politisch unruhigen Zeiten, die auf die österreichische wie deutsche Republik in den nächsten Jahren zukommen, kündet Hinterland anders als die allerdings auch später angesiedelte Referenzgröße Babylon Berlin allenfalls in einer kleinen Andeutung über einen österreichischen Gefreiten und dessen aufstrebende Partei, die sich zu diesem Zeitpunkt aber gerade erst umbenannt hatte.

Und so funktioniert Hinterland weniger als historisches oder vielmehr historisierendes Zeitbild, sondern in erster Linie als zeitgeschichtlich verorteter Krimiplot mit leichten Horroranleihen, in dem die Stadt Wien vor allem eines ist — und daran lässt der Film auch keinerlei Zweifel: eine komprimierte und manchmal fast karikaturenhaft übersteigerte Theaterkulisse für eine bei aller Dramatik am Ende doch recht konventionellen Rachegeschichte von nahezu klassischem Zuschnitt.

Hinterland (2021)

Wien 1920. Nach zwei Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft kehrt der ehemalige Kriminalbeamte Peter Perg in seine Heimatstadt zurück. Den Kaiser, für den er gekämpft hat, gibt es nicht mehr. Fremd in einer düsteren Welt, in der seine Glaubenssysteme zerstört sind, wird er mit einem schrecklichen Mord konfrontiert. Die Identität des Opfers ist für Perg ein Schock. Seine Vergangenheit holt ihn ein…. (Vienna Film Commission)

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Meinungen

Horst-Günther Fiedler · 09.08.2021

Kleine Frage: Ihr schreibt, dass der Kriminalbeamte nach sieben (!) Jahren Kriegsgefangenschaft anno 1920 nach Wien zurückkehrt. Das hieße, der Mann ist schon 1913 in Gefangenschaft geraten - und das bei einem Krieg, der erst, wenn wir uns an die Geschichtsstunde erinnern, am 28. Juli 1914 durch Kaiser Franz Josef gegen Serbien (die restlichen Mächte folgten wenig später; Deutschland etwa am 1. August) begonnen hat. Details verlangt ja keiner, aber ein bisschen historisches Basiswissen wäre schon angesagt, oder?

Gina · 05.10.2021

Und deshalb ist es wichtig, dass in Onlineartikeln Editierungen kenntlich gemacht werden.