Hemel (2012)

Eine Filmkritik von Stephan Langer

Am liebsten wie die Löwen

Hemel, das Langfilmdebüt der Niederländerin Sacha Polak, beginnt subtil und gekonnt mit einem erwähnenswerten Detail, das alle diejenigen versäumen werden, die nicht rechtzeitig im Kinosaal sind, die sich gerade noch hinsetzen und die Jacke auf dem Nebensitz verstauen, während schon die ersten Bilder flackern. Dann nämlich ist Folgendes bereits vorüber: vor dem ersten Bild beginnt der Film klassisch mit der Einblendung des Titels „Hemel“ auf schwarzem Grund, dazu hören wir auf der Tonspur einen Moment später den Ausruf „Gnade!“ aus dem Mund der gleichnamigen Hauptfigur Hemel (Hannah Hoekstra). Das ist die gesamte Exposition des Charakters, die der Film uns liefert.

Denn sogleich darauf sind wir im Bilde, erste Szene, explizit mittendrin: Die junge Hemel im Bett mit einem Mann, beide nackt, sie necken sich und raufen zwanglos. Dann erlaubt sie ihm gar, ihr Schamhaar zu rasieren, wonach sie nackt auf dem Bett liegt und bemerkt, dass sie jetzt wie ein Mädchen aussähe. An anderer Stelle erklärt Hemel einem anderen ihrer vielen sexuellen Abenteuer nach dem Liebesspiel, dass sie Männer am liebsten hat, wenn sie sich im Bett wie Löwen verhalten – schnell bei der Sache, sofort danach in den Schlaf fallend. Das sind die beiden verknüpften Epizentren des Films: Sex und Hemel (niederländisch für „Himmel“) – mit ihrer dem Himmel ganz entgegengesetzten Fleischeslust. Sie sucht sich immer wieder Männer, um sich vor ihrer Einsamkeit (sie ist ohne Mutter aufgewachsen) zu schützen und intime Nähe zu erfahren. Kaum zu glauben ist es, dass es neben der Regisseurin Polak auch für Schauspielerin Hannah Hoekstra ihr Debüt in einer Hauptrolle ist. Sie spielt die junge Frau wirklich imponierend, ganz ohne Rückhalt stürzt sie sich in ihr körperliches Spiel, in die ehrliche, sexuell geladene Melancholie ihrer Figur. Auf bemerkenswerte Weise spielt sie die emotionalen Facetten ihrer Figur aus: mal verführt sie ihre Gegenüber ganz ohne Umschweife, wobei ihr Gesicht von einem Moment auf den nächsten erstrahlt und ihre Augen langsam beginnen zu leuchten. Dieses Leuchten wiederum geht in anderen Momenten ganz allmählich in Matt über, dann folgen Tränen. Eines ist in Hoekstras Hemel jedoch stets spürbar, sei es in positiven oder negativen Situationen: die tiefe Traurigkeit eines Menschen, der versucht, etwas Verlorenes wiederzufinden.

Die Verhaltensmuster, mit denen Hemel sich durch ihr Leben manövriert, hat sie sich von ihrem vergötterten Vater Gijs (Hans Dagelet) abgeschaut. Er, ein eleganter Kunsthändler mittleren Alters, in äußerlich blendender Verfassung, führt nach dem Tod seiner Frau und Hemels Mutter keine feste Beziehung, sondern wechselt die Frauen fast so oft wie seine Tochter ihre Männer. Oft sind die nicht viel älter als die eigene Tochter. Polak schildert in Hemel die Vater-Tochter-Beziehung als eine sehr enge, die durch ihre extreme Nähe an einigen Stellen durch den stets präsenten (doch niemals ausgesprochenen), inzestuösen Schatten ins leicht Gruselige kippt. Bis auf den fehlenden Sex verhalten sich die beiden wie ein Liebespaar. Sie balgen sich, wobei Hemel in einer diesmal keuschen Wiederholung der Eröffnungsszene „Gnade!“ verlangt, als Gijs auf ihr sitzt. Sie verbringen gemeinsam entspannte Zeit im Badezimmer, duschen vertraut voreinander, gehen zusammen in die Oper. Dort sitzen sie dann in einer wunderbar gelungenen Sequenz nebeneinander, lauschen der Musik und halten ein jeder des anderen Hand, alles ganz ohne Worte. Als Gijs jedoch Sophie (Rifka Lodeizen) kennenlernt und sich mit ihr eine ernsthafte Zweierbeziehung anbahnt, gerät Hemel in psychologisch schwierige Untiefen.

Ihr gesamtes Weltbild ist dominiert von ihrem Vater. Er ist immer präsent, auch wenn er einmal nicht (real) präsent ist. Diese Allgegenwärtigkeit findet sich auch auf Ebene des Scores wieder. In der Szene, die Gijs als Figur in die Geschichte einführt, spielt er zu Hause für sich Trompete, als Hemel hereinplatzt und sie sich kurz darauf übermütig auf dem Boden wälzen und balgen. Das musikalische Leitmotiv des Films ist ein Elektronikstück mit getragenem Trompetenthema. Durch die Aufladung des Trompetenspiels mit der Vaterfigur bekommt das Leitmotiv die Vater-Konnotation. So ist er immer auch dann präsent, wenn das Motiv wiederkehrt (und das ist häufig). Ist ihr Vater damit also Hemels Gott? Der Gott des Himmels, also des Films und der Hauptfigur? Einerseits, nach dem Geschilderten, ganz klar ja, andererseits bleibt der Film (nicht nur an dieser Stelle) ambivalent. Formal ist Hemel unterteilt in betitelte Kapitel, eines davon heißt „Wo Gott wohnt“. Dies ist dann allerdings nicht etwa das Haus des Vaters, sondern die Wohnung eines Mannes, mit dem Hemel schläft. Währenddessen beginnt er plötzlich, sie etwas zu sehr zu drangsalieren und etwas zu fest zu schlagen, was nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Gott scheint demzufolge also ein Sadist zu sein, der eine auch von Schlechtem durchzogene Welt unter sich hat, der man sich nicht allzu kindlich-naiv öffnen sollte, was Hemel zumeist tut und unter anderem den Reiz an ihrer Figur ausmacht.

Als sie einmal wieder einen Typen mit nach Hause bringt und mit ihm schläft, sieht man in einer Einstellung am Kopfende ihres Bettes mehrere Bücher liegen, unter anderem Just Kids von Patti Smith. Später dann, ausgerechnet als sie zum ersten Mal die Frau trifft, mit der es ihr Vater ernst meint, sieht sie in ihrem Hosenanzug und der schmalen Krawatte fast so aus, wie die junge Patti Smith auf dem Cover von Horses. Folgerichtig provoziert sie beim gemeinsamen Kennenlernkaffee, infantil eingeschnappt, die neue Freundin des Vaters, gleichzeitig ja ihre Konkurrentin um den Vater. Hemel hat etwas Kindliches in ihrer Offenheit gegenüber anderen, in ihrer Gier und in der Verdrängung der ihr scheinbar gar nicht bewussten Gefahren, in die sie sich manchmal im Spiel mit fremden Männern begibt. So wie der Charakter Hemels zwischen extrem selbstbewusst und extrem brüchig oszilliert, wirken die Bilder von Hemel: immer wieder folgen auf kühle Bilder in blau kontrastierend solche, die warm in Gelb oder Orange getaucht sind. Dadurch bekommen die Bilderabfolgen eine erfrischende Lebendigkeit, die eine Spannung zur Melancholie der Charaktere darstellt.

Im Endeffekt muss man trotz der Hülle und Fülle an intimen Geheimnisse, von denen wir im Kinosessel Zeuge werden, sagen, dass uns Hemel als Mensch rätselhaft und ihre Handlungsmotivation oft unverständlich bleibt. Ihr Charakter schimmert und ist dabei schwierig zu (be)greifen, so wie der Film im Ganzen gezielt Fragment bleibt. Vorgeworfen wird der Geschichte vielleicht werden, dass sie etwas zu konstruiert wirkt und die psychologische Tiefe des Drehbuchs an einigen kleinen Stellen noch ausbaufähig wäre. Dagegen muss in jedem Fall gesagt werden, dass die Regisseurin eine verführerische, bisweilen auch passend rohe Studie zur Sexualität liefert, aus der Perspektive einer Frau, kontextualisiert nicht in einer pathologischen, allenfalls einer seltsam spannenden Vater-Tochter-Beziehung. Hemel – sowohl der Film als auch die Hauptfigur, gespielt von Hoekstra – sind unbedingt sehenswert. Beide entwickeln stellenweise einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.

Hemel (2012)

„Hemel“, das Langfilmdebüt der Niederländerin Sacha Polak, beginnt subtil und gekonnt mit einem erwähnenswerten Detail, das alle diejenigen versäumen werden, die nicht rechtzeitig im Kinosaal sind, die sich gerade noch hinsetzen und die Jacke auf dem Nebensitz verstauen, während schon die ersten Bilder flackern.

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