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In einem Istanbuler Viertel tobt die Gentrifizierung und die Zukunft der Bewohner ist ungewiss. An einem Tag, an dem der Strom ausfällt, kreuzen sich die Wege von vier Personen. Im Zentrum dieses Spielfilms über das Leben in einer repressiven Gesellschaft steht eine junge Frau, die tanzen will.

Ghosts (2020)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Eine Stadt der fast verbauten Wege

Wenn Didem (Dilayda Güneş) ihre Kopfhörer aufsetzt, vergisst sie die Welt um sich herum und gibt sich ganz der tänzerischen Bewegung hin. Ein solcher Moment kostet die junge Frau den Job als Zimmermädchen in einem Istanbuler Hotel. So wird Didem zur Stadtflaneurin an einem Tag, an dem im ganzen Land der Strom ausfällt. Ihre Wege durch ein Stadtviertel, in dem die Gentrifizierung wütet, kreuzen sich mit denen anderer Figuren, wobei ein lebendiger Eindruck vom Alltag in einer gesellschaftlichen Gegenwart zwischen Repression und Aufbruch entsteht.

Die türkische Regisseurin Azra Deniz Okyay hat ihr Spielfilmdebüt, das auch einen feministischen Blick auf die Situation der Frauen wirft, ihrer Mutter gewidmet. Die Idee des Stromausfalls verwendet sie nach eigener Aussage metaphorisch für eine Geschichte über ein Land, „das in der Dunkelheit versinkt“. Die Freiheitsträume und Hoffnungen der jungen Generation, verkrpert durch Didem und die feministische Künstlerin und Aktivistin Ela (Beril Kayar), stoßen überall auf Barrieren. Didem wird von der Polizei verjagt, als sie vor den Blocks mit ihren Freundinnen den Tanz für einen Wettbewerb üben will. Eine Nachbarin hat sich beschwert, weil die Tänzerinnen männliche Gaffer anziehen. Ela, die sich um Roma-Kinder kümmert, bekommt mit, wie die armen Familien in die Obdachlosigkeit gedrängt werden.

Die Müllarbeiterin Iffet (Nalan Kuruçim) klappert verzweifelt ihr Umfeld ab, mit der Bitte um Geld. Ihr Sohn sitzt im Gefängnis und wird dort von der Leitung drangsaliert. Ihm droht Böses, wenn er nicht in drei Tagen eine höhere Geldsumme zahlt. Iffet weiß sich schließlich keinen anderen Rat, als einen Drogenkurierdienst zu übernehmen. Iffet spannt dafür auch Didem ein und leiht sich das Auto Raşits (Emrah Ozdemir), einer zwielichtigen Figur, die illegale Abbruchaktionen für ein Immobilienunternehmen durchführt. Der Geschäftemacher Raşit vermietet auch unter der Hand überteuerte Schlafplätze in Mehrbettzimmern an syrische Migranten.

Die Wege dieser unterschiedlichen Charaktere verlaufen nicht geradlinig. Und die Geschichte dreht elliptische Schleifen, schaut mal der einen Person über die Schulter, begleitet dann wieder eine andere und kehrt wiederholt zu Kreuzungspunkten zurück. Ein Moment, als über den Köpfen von Didem und Iffet ein Polizeihubschrauber kreist, wiederholt sich. Die Sätze aus den Radionachrichten, in denen es heißt, das Innenministerium vermute ein internationales Komplott als Ursache des Stromausfalls, fallen ebenfalls öfter. Der kritische, spöttische Blick der Filmemacherin auf die politische Inkompetenz im Land sorgt hier und da für eine erfrischende Note in diesen realitätsnahen Alltagsskizzen. Didem und die anderen Figuren müssen ihre Wege oft heimlich beschreiten, haben keinen sicheren Stand im öffentlichen Raum. Ein Geflecht krummer und gekrümmter Touren durchzieht den Untergrund der Oberfläche, in dem sich von den Mächtigen gesteuerte Ganoven, Notleidende und junge Menschen, die etwas Neues aufbauen wollen, begegnen.

Die Handkamera heftet sich oft hautnah an die Figuren, flitzt herum, um mit unscharfen Schwenks ihren Blicken zu folgen. Auch Handyaufnahmen kommen zum Einsatz, so dass eine Atmosphäre energiegeladenen Suchens entsteht. Didem stromert durch Viertel mit maroden Häusern, hinter denen sich die schöne neue Welt der Immobilienwirtschaft bedrohlich auftürmt. Diese Aufnahmen laden dazu ein, über den Sinn einer solchen Stadtplanung nachzudenken. Wem gehört der öffentliche Raum, der Platz zwischen den Hochhäusern, wird es da noch Begegnungen geben wie jetzt zwischen Didem und den Nachbar*innen? Sollen die Menschen nicht immer weiter isoliert, vom gemeinsamen Boden abgedrängt werden?

Die Erlebnisse der Charaktere zeigen im Wechsel, dass Mitmenschlichkeit und Solidarität in diesen Vierteln noch vorhanden sind, während aber die Unsicherheit zu wachsen scheint, welche Werte einen noch verbinden und ob man nicht lieber einfach schauen sollte, wo man bleibt. Didem aber tanzt spontan in der Dunkelheit, junge Menschen treffen sich zu einem privaten Konzert, auf dem sie beseelt singen im Schein ihrer Handy-Taschenlampen. Der Hunger nach Leben, nach Freiheit bahnt sich immer neue Wege und schenkt diesem dynamischen Film einen kraftvollen Puls.

Ghosts (2020)

Der Film erzählt mittels vierer Charaktere an einem einzigen Tag von dem Transformationsprozess Istanbuls.

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