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Wenn es nach dem französischen Regisseur Eric Gravel geht, dann werden viel zu wenige Geschichten über das Berufspendeln erzählt. Sein neuer Film schafft Abhilfe und begeistert mit einer Hauptfigur, die niemals stillsteht.

Julie - Eine Frau gibt nicht auf (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Gegen die Zeit

Die durchschnittliche Arbeitszeit sinkt, und doch werden die Menschen den Eindruck nicht los, immer weniger Zeit zu haben. Für manche mag das ein Luxusproblem sein. Für die alleinerziehende Mutter Julie ist es ein existenzielles. Die Wege sind zu weit, die Belastung nach Feierabend ist zu hoch, Raum für sich selbst nicht vorhanden. Regisseur Eric Gravel erzählt davon, was das aus einem macht – und lässt es sein Publikum am eigenen Leib spüren.

Immer wieder dieses Schrillen, das die Nacht zerreißt! Spätestens, wenn der Weckruf aus dem Mobiltelefon zum dritten Mal durch den Kinosaal dringt, sind auch wir Zuschauenden gerädert. Und sehen der von Laure Calamy famos verkörperten Titelheldin nur noch missmutig beim Aufstehen zu. Doch Julie gibt nicht auf, wie schon der Untertitel dieses Dramas verrät. Also quälen wir uns gemeinsam mit ihr abermals aus dem Bett, geben die zwei Kinder im Stockdunkeln bei einer pensionierten Nachbarin ab und fahren in Frankreichs Hauptstadt. 

Paris, Stadt der Liebe, Stadt der Lichter – und der unsichtbaren Niedriglöhner. Dort schuftet sich Julie in einem Nobelhotel den Buckel krumm. Nach Jobverlust und Scheidung ist die Akademikerin nun Zimmermädchen wider Willen, aber immerhin eins mit Verantwortung. Sie teilt die Dienstpläne ein, bewertet die Kolleginnen und lässt Pragmatismus walten. Hat einer der Gäste einen Schweinestall im Badezimmer hinterlassen, rückt Julie der Ferkelei mit dem Hochdruckreiniger zu Leibe. Zwischen Putzeimern und frischen Bettbezügen träumt sie von einer neuen Anstellung in ihrem alten Berufsfeld. Unzählige erfolglose Bewerbungen später hat sie endlich ein Vorstellungsgespräch ergattert, aber keine Zeit, es wahrzunehmen. Doch Julie wäre nicht Julie, wenn sie nicht auch für dieses Problem eine Lösung fände.

Der Regisseur Eric Gravel wohnt auf dem Land. Viele seiner Nachbarn fahren jeden Tag zum Arbeiten nach Paris. Doch „es gibt nicht viele Filme über die Lebensrealität des Pendelns“, sagt Gravel in einem Interview über seinen zweiten abendfüllenden Spielfilm und fügt an: „Ich möchte zeigen, wie sich dieses Leben anfühlt.“ Bei Gravel fühl es sich wie ein Thriller an. 

Wie lässt sich Zeitdruck besser auf Zelluloid bannen als durch einen Wecker, der viel zu früh schrillt? Gravel hat ein paar Ideen. Im von ihm selbst verfassten Drehbuch türmt sich Hindernis auf Hindernis. Ein Streik legt den öffentlichen Nahverkehr lahm. Der abgetauchte Ex-Mann zahlt die Alimente nicht. Die betagte Nachbarin verliert beim Kinderhüten die Nerven. Julies Chefin hat sie auf dem Kieker. Und der Warmwasserboiler gibt den Geist auf. Victor Seguins an den Jason-Bourne-Filmen geschulte Kameraarbeit, Irène Drésels elektronischer Soundtrack, der die Hauptfigur wie in einem Werk der Safdie-Brüder voranpeitscht, und Mathilde Van de Moortels perfekt auf den Beat abgestimmter Schnittrhythmus erledigen den Rest. Wir können Julies Anspannung förmlich greifen.

Dennoch steht und fällt in diesem Drama alles mit Laure Calamy. Sie ist in jeder Szene zu sehen und trägt den Film scheinbar mühelos. Calamy spielt eine Frau, die gelernt hat, gute Miene zum kapitalistischen Spiel zu machen. Wie ausweglos die Situation auch sein mag, ein ums andere Mal setzt Julie ihr umwerfendes Lächeln auf und marschiert unbeirrt weiter. Wie sehr sie sich dabei selbst verliert, vergisst und vernachlässigt, veranschaulichen kleine Momente, die leicht zu übersehen sind. Ein entspanntes Verschnaufen in einem warmen Bad, bevor der von Albträumen geplagte Sohn an der Wanne steht und Julie zurück in den Alltagsstress holt. Ein schüchterner Kuss, den sie einem flüchtigen Bekannten aufdrückt, bevor ihr Gesichtsausdruck offenbart, wie lange sie schon nicht mehr geküsst worden ist.

Laure Calamy, die leider viel zu selten für Hauptrollen besetzt wird, benötigt unglaublich wenig, um diese Gefühle nonverbal zu vermitteln. Und das ist großartig. Bei den 78. Filmfestspielen von Venedig, wo Julie in der Sektion Orizonti lief, gewann Calamy den Preis als beste Darstellerin. Gravel wurde als bester Regisseur ausgezeichnet.

Sein Drama über eine alleinerziehende Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs hätte auch ganz anders ausgehen können. Mehrfach deutet Gravel ein tragisches Ende an, entscheidet sich letztlich aber für ein im wahrsten Wortsinn erhebendes. Zusammen mit Julie atmen auch wir Zuschauenden endlich auf.

Julie - Eine Frau gibt nicht auf (2021)

Eine Frau unter Strom. Nach der Trennung von ihrem Mann ist Julie in einen Pariser Vorort gezogen, wo sie sich alleine um ihre beiden Kinder kümmert. Jeden Tag bringt sie beide zu einer älteren Nanny und fährt danach nach Paris, wo sie einen stressigen Job als Zimmermädchen in einem Luxushotel hat. Als ein Streik ausbricht, fällt der öffentliche Verkehr ständig aus, was das Pendeln zwischen Wohnort und Arbeitsplatz erheblich erschwert. Als Julie sich zudem noch für einen anderen Job in der Stadt bewirbt, gerät sie in einen Marathon zwischen elterlicher Fürsorge und Trouble-Shooting, der sie an den Rand ihrer Kräfte und ihre berufliche wie private Existenz in Gefahr bringt.

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