Friedliche Zeiten

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Im Westen was Neues

Eine Mutter, die sich zu viel Sorgen macht, kennt wohl fast jeder. Aber Irene ist ein Extrem. Wenn ihre Tochter die Regel bekommt, hat Irene sofort Angst, es könnte sich statt dessen um ein blutendes Geschwulst handeln. Das ist eigentlich nicht witzig. In Neele Leana Vollmars Tragikomödie aber doch. Zumindest streckenweise.
Wie alle Menschen, die das Gefühl müde geweinter Augen mögen, hat Irene (Katharina Schubert) Gründe für ihr Unglück: Zusammen mit ihrem Mann Dieter und den drei Kindern Wasa, Ute und Flori ist sie 1961 aus der damaligen DDR in den Westen geflüchtet, mehr ihrem Mann zuliebe als aus eigenem Antrieb. Irene trauert also der Vergangenheit nach, auch aus einem anderen Grund: Ihre erste große Liebe wurde beim Einmarsch der Russen am Ende des Zweiten Weltkriegs erschossen, ausgerechnet der Sohn des einzigen Kommunisten dieses Dorfes. So verrückt ist die Welt. Und so ungerecht.

Während ihr Mann Dieter am liebsten lacht und Witze erzählt, ist Irene immer traurig und mit ihren Phobien beschäftigt: etwa der Angst, dass die Haustür nicht verriegelt sein könnte und dann in der nächsten Sekunde ein Einbrecher vor der Tür stehen wird, der die Kinder tötet. Aber zur Ehrenrettung von Irene muss man dazusagen, dass all ihre Ängste auch Verschiebungen sind — herrührend von einer Furcht, die sich im Lauf der Handlung als ganz berechtigt herausstellt: Der lebenslustige Dieter (Oliver Stokowski) geht fremd. Spätestens dann wissen wir: Friedliche Zeiten ist ein höchst ironischer Titel. In dieser Familie herrscht Krieg.

Die Geschichte basiert auf der gleichnamigen Erzählung der Erfolgsautorin Birgit Vanderbeke. Sie schildert das Familiendrama aus der Ich-Perspektive von Ute, der zweitältesten Tochter. Das führt zu einer ebenso verqueren wie bezwingenden Logik. In inneren Monologen und komplizierten Kreisgedanken versucht Ute zu bewältigen, was sie gar nicht bewältigen kann: nämlich sich aus den Infofetzen, die sie vom Leben und von den Weltanschauungen ihrer Eltern mitkriegt, eine Lösung zu zimmern, wie sie ihnen helfen könnte. Das ist natürlich gar nicht lustig, dass Kinder für Erwachsene sorgen. Aber es wird mit einer solchen Sympathie für die kindliche Fantasie erzählt, dass man über die depressive Mutter, die ihre Kinder einmal tatsächlich mit in den Tod reißen will, seitenweise schmunzeln kann.

Auch das Film-Drehbuch von Ruth Toma (Emmas Glück behält die Perspektive von Ute bei. Abgesehen von einigen Straffungen und Umstellungen wurde nur wenig geändert. Das schadet dem Film vor allem im ersten Drittel, wenn die Figuren exponiert werden. Was als innerer Gedankenstrom lustig ist, wirkt als gesprochener Kindersatz übermäßig altklug. Gut, dass es zum Ausgleich ein paar originär filmische Witze gibt, etwa die authentischen und zugleich parodistisch zugespitzten Einblicke in die Mode, den kleinbürgerlichen Mief und die „Negermusik“ der 1960er Jahre.

Urlaub vom Leben hieß das vielversprechende, mit Recht hochgelobte Debüt von Neele Leana Vollmar. Eine Auszeit von ihrem normalen Alltag haben auch die Figuren in Vollmars zweitem Spielfilm nötig. Der hält zwar den hohen Erwartungen, die man aufgrund des Erstlings hegen konnte, nicht stand. Aber er ist trotzdem kein schlechter Film. Denn an einer entscheidenden Schraube haben Regie und Drehbuch gottseidank gedreht: Im Film mischen sich die Kinder viel mehr in das Leben der Eltern ein als in der Vorlage. Dadurch kommt etwas in Gang, das den Film in den letzten zwei Dritteln rettet. Die Figuren bekommen tatsächlich so etwas wie eine Auszeit, möglicherweise sogar auf Dauer. Es gibt einen Konflikt und eine Entwicklung, die mit dramatischen Mitteln erzählt werden können, sich nicht auf innere Gedanken beziehen müssen. Eine Entwicklung übrigens auch für Irene. Vielleicht hat sie, so hofft man, in Zukunft nur noch die Sorgen, die alle Mütter haben.

Friedliche Zeiten

Eine Mutter, die sich zu viel Sorgen macht, kennt wohl fast jeder. Aber Irene ist ein Extrem. Wenn ihre Tochter die Regel bekommt, hat Irene sofort Angst, es könnte sich statt dessen um ein blutendes Geschwulst handeln.
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Meinungen

· 22.09.2008

War es wirklich so wie in dem Film dargestellt wird, dass Kinder aus der ehemaligen DDR in der Bundesrepublik von ihren Mitschülern gehänselt wurden "die Russen kommen"? Wie kamen die feinen BRD - Kinder zu solchen Aussagen? Deren Eltern hätten mit ihnen einmal in die DDR fahren sollen und schauen wie die dort wirklich gelebt haben... Miteinander und Mitgefühl schien es also schon in den 60-er Jahren in der BRD nicht gegeben zu haben.

· 21.09.2008

Wunderschöner Film! Tolle Darsteller, tolles Szenenbild - insgesamt eine klasse Regieleistung.