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In „Olfas Töchter“ lässt Kaouther Ben Hania Dokumentar- und Spielfilm ineinanderfließen, um eine Familiengeschichte und die gesellschaftspolitischen Hintergründe zu schildern.

Olfas Töchter (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Ein Film als therapeutisches Labor

Die 1977 in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid geborene Regisseurin Kaouther Ben Hania hat in ihren Werken schon oft ihre Faszination für die fließenden Grenzen zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktionalen im Kino zum Ausdruck gebracht. So befasste sie sich etwa in „Le Challat de Tunis“ (2013) mit einer Verbrechensserie in ihrem Heimatland in Form einer Mockumentary. Als prägende Filme für ihr eigenes Schaffen nennt sie „F wie Fälschung“ (1973) von Orson Welles und „Close-Up“ (1990) von Abbas Kiarostami – zwei Arbeiten, die sich auf komplexe Weise mit dem Begriff der Wirklichkeit auseinandersetzen.

Auch Olfas Töchter ist eine spannende Mischung der Filmgattungen. Einerseits werden hier echte Menschen und deren Schicksale porträtiert, unter anderem durch Talking-Head-Aufnahmen. Andererseits schlüpfen einige Schauspieler:innen, darunter ein nationaler Star, in diverse Rollen – allerdings nicht in klassischen Reenactments, um dem Publikum bestimmte Situationen besser veranschaulichen zu können. Sondern zuweilen in direkter Interaktion mit den realen Personen, als belebte Erinnerung und als Versuch einer Aufarbeitung in Fleisch und Blut.

Die vierfache Mutter Olfa Hamrouni erregte im April 2016 auf internationaler Ebene große Aufmerksamkeit, als sie öffentlich über die Radikalisierung ihrer beiden älteren Töchter Ghofrane und Rahma sprach. Die jungen Frauen hatten die Familie verlassen, um sich der Terrororganisation IS anzuschließen. In einem Interview erzählt die Filmemacherin, dass sie bereits damals erste Aufnahmen mit Olfa gemacht, jedoch nicht den passenden Zugang zum Thema gefunden habe.

Als Ort der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (und der Gegenwart) dient nun ein altes Hotel in Tunis. Als Vorbild nennt Ben Hania die minimalistische Kulisse in Lars von Triers Dogville (2003), in der Kreidemarkierungen ausreichen, um eine Welt entstehen zu lassen. In diesem Setting sehen wir Olfa mit ihren zwei verbliebenen jüngeren Töchtern Eya und Tayssir, wie sie gemeinsam oder einzeln etwa über ihre jeweilige Kindheit und Jugend oder über den Verlust der älteren Töchter beziehungsweise Schwestern reden.

Hinzu kommen die im arabischen Raum sehr bekannte Schauspielerin Hend Sabri, die Olfas Part übernimmt, wenn es für diese zu aufwühlend wird, und Sabris Kolleginnen Ichraq Matar und Nour Karoui, die den Platz der zwei verschwundenen weiblichen Familienmitglieder einnehmen. Der Schauspieler Majd Mastoura bekleidet zudem sämtliche Männerrollen. Gelegentlich erleben wir mit, wie die Verkörperung eingeübt wird. Nicht zuletzt ist Olfas Töchter ein Film darüber, wie die Realität erfasst und nachvollzogen werden kann.

Ben Hania bezeichnet ihr Werk selbst als „ein therapeutisches Labor“. Insbesondere Olfa muss sich mit ihrem Verhalten und mit ihren Einstellungen gegenüber ihren Kindern konfrontieren (lassen). Zugleich wird deutlich, dass ganz gewiss nicht sie allein die Schuld an den Entwicklungen trägt. Der Film blickt auf experimentelle Art und Weise auf einen individuellen Fall – und macht dadurch auf die patriarchalen Machtstrukturen und auf die Gewalt im Land aufmerksam.

(Gesehen im Rahmen des Transit Filmfests 2023)

Olfas Töchter (2023)

„Four Daughters“ erzählt die außergewöhnliche Geschichte von OLFA und ihren 4 Töchtern. Eine Geschichte so unglaublich und schrecklich, dass sie uns wie Fiktion vorkommt.

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