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Die titelgebende Tageszeitung Kabuls wird im Sommer 2021 in ihrer Existenz bedroht. Die nach dem Abzug der amerikanischen Streitkräfte einrückenden Taliban werden, so befürchtet die Belegschaft, kritischen Journalismus verbieten. Der Film dokumentiert diese Zeitenwende aus der Sicht der Redaktion.

Etilaat Roz (2022)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Die letzten Tage der freien Presse in Kabul

Als die US-Truppen Afghanistan im Sommer 2021 verlassen, beherrschen wochenlang Bilder der Verzweiflung die Nachrichtensendungen. Während die radikalislamische Terrororganisation Taliban in die Hauptstadt Kabul einzieht, um die politische Macht zu übernehmen, drängen unzählige afghanische Bürger*innen, die um ihr Leben fürchten, auf den Flughafen. Sie hoffen, in westlichen Militärflugzeugen evakuiert zu werden. Auch in der Redaktion von Etilaat Roz, der größten Tageszeitung Kabuls, macht sich Untergangsstimmung breit. Die Redakteure und Redakteurinnen fragen sich, ob sie weiterarbeiten oder lieber gleich das Land verlassen sollen.

Der erste lange Dokumentarfilm von Abbas Rezaie, der damals als Redakteur bei Etilaat Roz arbeitet, beobachtet in den Räumen der Tageszeitung, wie die Journalisten das chaotische, bedrohliche Geschehen reflektieren. Rezaie ist von August bis Oktober 2021 mit der Filmkamera vor Ort, also unmittelbar vor, während und auch nach dem Fall Kabuls an die Taliban. Deren Einzug in die Hauptstadt macht sich nur indirekt bemerkbar, in Form von beunruhigenden Nachrichten, die die Redaktion auf ihren Handys verfolgt. Außerdem erzählt sich die Belegschaft selbst jeden Tag aufs Neue, was sich draußen auf den Straßen abspielt. Das Redaktionsgebäude mit seinem stillen Innenhof mutet in diesen Wochen und Monaten wie ein Refugium, eine schützende Insel im Strom einer feindlichen Außenwelt an. Das DOK.fest München eröffnet sein Festival 2023 mit diesem dramatischen Zeitdokument vom Ende einer hoffnungsvollen Ära in Kabul.

Im Zentrum des Films steht der relativ jung aussehende Herausgeber der Zeitung, Zaki Daryabi, der ein ebenfalls sehr junges Team von 50 Mitarbeiter*innen beschäftigt. Daryabi, der den Dokumentarfilm gemeinsam mit Rezaie produziert hat, hält die Stellung. Täglich setzt er sich an seinen Schreibtisch in einer Redaktion, die sich zunehmend leert. Er muss sich nicht nur Gedanken über die journalistische Zukunft machen, sondern viel Zeit und Mühe darauf verwenden, seine ausreisewilligen Leute auf Evakuierungslisten unterzubringen. Sie brauchen Pässe, Visa, Sondergenehmigungen. Wiederholt kommt es zu bewegenden Abschiedsszenen in der Redaktion.

Der Film, in dem Rezaie aus dem Off seine Fragen stellt, die ihn klar als Insider und Beteiligten, als Kollegen ausweisen, hält die verschiedenen Phasen des Umbruchs fest. Zuerst sind alle überrascht, unvorbereitet und hoffen noch, dass die Taliban irgendwie im Zaum gehalten werden könnten. Die Zeitung, die sich zehn Jahre lang mit ihren Recherchen zu Korruption und Amtsmissbrauch einen Ruf als Instanz der freien Presse erarbeitet hat, stellt dann ihre Printausgabe jedoch schon im August ein. Daryabi rät allen seinen Leuten, das Land zu verlassen. Resignation beschleicht ihn und er hat das Gefühl, seine Leserschaft im Stich zu lassen.

Meldungen, wonach die Taliban beteuern, die Presse nicht zu behindern, sorgen wiederum für Hoffnung. Zeitungsreporter schwärmen zum Teil mit Kameras aus auf die Straßen, wo Menschen gegen die Beschneidung ihrer Rechte durch die Taliban protestieren. Zwei der Zeitungsjournalisten kehren mit schweren Verletzungen in die Redaktion zurück: Sie erzählen, wie sie festgenommen wurden von Talibankämpfern, die von Pressefreiheit nicht wissen wollten, wie sie brutal geschlagen wurden. Nach einer Videokonferenz rollen dem Herausgeber Tränen übers Gesicht. Während die restlichen Mitarbeiter Dokumente und Archivmaterial einpacken, harrt Daryabi eisern im Büro aus. Er weiß, dass der Tag naht, an dem die neuen Herrscher ihren Besuch abstatten.

Die Kamera ist bei diesem Ereignis dann abgeschaltet, aber Daryabi erzählt im Anschluss. In ihrer typischen Manier hätten sich die hochrangigen Taliban erst für die Misshandlung der Reporter entschuldigt und dann ihre Regeln für journalistische Berichterstattung verkündet. Etilaat Roz, sagt Daryabi, könne unter diesen Umständen nur den eigenen Anspruch verraten. Nun ist es auch für den Kapitän Zeit, von Bord zu gehen. Was diesen Film so sehenswert macht, ist seine Nähe zu den Personen, die dem Drama der politischen Zeitenwende ein Gesicht geben. Die Nervosität in den Mienen der Redakteure und Reporterinnen, ihre um Hoffnung ringenden Fragen, die kollegiale und freundschaftliche Solidarität, die sie einander schenken, geben dem Film die Intensität eines Kammerspiels. Rezaie lässt in den Aufnahmen stets die Trauer um die verlorene Freiheit durchsickern, in der aber noch ein Keim der Hoffnung schlummert.

Etilaat Roz (2022)

„Etilaat Roz“ erzählt hautnah von der auflagenstärksten Tageszeitung Kabuls in den Tagen vor, während und nach dem überstürzten Abzug der alliierten Streitkräfte im Sommer 2021: In den Redaktionsräumen der von Transparency International ausgezeichneten Tageszeitung „Etilaat Roz“ erleben die Zuschauer*innen den Fall Kabuls als dramatisches Kammerspiel. Draußen übernehmen die Taliban die Macht, drinnen liegen die Nerven von Herausgeber Zaki Daryabi und seinem 50-köpfigen Team zunehmend blank. Sie müssen eine Entscheidung treffen: weitermachen oder fliehen? 

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