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Nestbeschmutzerin, Vaterlandsverräterin, Pornographin – das sind nur einige der Beleidigungen, mit denen Elfriede Jelinek und ihr literarisches Werk überzogen wurden. Ihr Bild ist beschädigt und verzerrt durch diese Anfeindungen. Die Dokumentation von Claudia Müller wischt den Dreck weg. 

Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen (2022)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Sprachkünstlerin und Provokateurin

Sie wird beschimpft, beleidigt und angefeindet. Fast jeder hat eine Meinung zu ihr. Und doch kennen die meisten dieser Wut-Bürger keine einzige Zeile von ihr. Elfriede Jelinek – Feministin, Kommunistin und Sprachkünstlerin – teilt dieses Schicksal mit anderen Autor*innen, die sich politisch äußern. Aber der Unkenntnis kann jetzt abgeholfen werden: mit einer Dokumentation, die nicht nur die Nobelpreisträgerin, sondern auch ihr Werk ausführlich zu Wort kommen lässt. Regisseurin Claudia Müller wählt dafür eine collagenartige Filmsprache, die sich der Experimentierfreude der Autorin anschmiegt.

0,8 Sekunden Jelinek — so fängt es an: mit einem Protest gegen das Zu-kurz-Kommen weiblicher Autorinnen in einer Fernsehsendung. „Betrachten Sie mich jetzt“, schreibt Jelinek auf ein Plakat, das ihr Gesicht verdeckt. Dann zeigt sie sich für weniger als eine Sekunde und schiebt das Schild wieder hoch. Ganz jung sieht sie aus. Und doch ist vieles schon da, was ihr Werk ausmacht. Etwa die Verbindung von politischen Anliegen mit spielerischen Mitteln. Autonom soll ihre literarische Sprache sein, nicht geknechtet von dem Anliegen, das hinter ihr steht. Oder wie es der Filmtitel so poetisch formuliert: „von der Leine“ gelassen. So erhalten die Wörter ihre Freiheit zurück, setzen sich neu zusammen und lassen indirekt das Gemeinte durchscheinen, ohne unmittelbar darauf zu verweisen. „Einen musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen“ nannte das Nobelpreiskomitee das Verfahren, das Jelinek 2004 als erster Österreicherin die höchste Auszeichnung für Schreibende verlieh.

Auf Jelineks musikalischen Sprachfluss antwortet der Film mit einem Fluss der Bilder, einem Puzzle von Versatzstücken, Widersprüchen, Zitaten und ganz vielen älteren Interviews, aus denen sich nach und nach ein intimes, feinfühliges und differenziertes Bild herausschält, das Platz lässt für eigene Assoziationen und Lebenserinnerungen des Zuschauers. Regisseurin Claudia Müller geht dabei nicht streng chronologisch vor, driftet aber auch nicht ins rein Essayistische ab, sondern formt verschiedene Bausteine, die dem Publikum die Künstlerin und den Menschen Elfriede Jelinek (Jahrgang 1946) näherbringen. Ein ganz wichtiger ist die Kindheit, das Leiden unter der dominanten Mutter, die aus der einzigen Tochter ein musikalisches Wunderkind machen wollte und ihr mit einem unerbittlichen Drill von früh bis spät zusetzte. 

Das Schreiben sei auch deshalb ihre Rettung vor dieser Tyrannei gewesen, erzählt die Autorin einmal, weil es die einzige Kunstform war, die die Mutter nicht goutierte. Ein weiterer Faktor, der ihr Schreiben befeuert, ist das Land Österreich, mit seinen Heucheleien, dem Ausverkauf seiner Landschaften, seiner Frauenfeindlichkeit und der verdrängten Nazi-Vergangenheit, aus deren braunem Sumpf dann die Rechtspopulisten um Jörg Haider hervorkrochen. Jelinek hat unter ihrer Heimat mindestens so sehr gelitten wie ihr älterer Schriftstellerkollege Thomas Bernhard. Generell erklärt sie sich die Radikalität der österreichischen Kunst mit dem hohen Druck im gesellschaftlichen Kessel, der dann mit umso heftigerem Knall explodiert.

Der Film will mit Recht jede Psychologisierung vermeiden und das Werk nicht aus dem Leben erklären. Dennoch ermöglicht die Montage der vielfältigen persönlichen und zeitgeschichtlichen Materialien das unbefangene Kennenlernen einer Person und ihrer Biografie, die von öffentlichen Kontroversen, Polarisierungen und Vorurteilen quasi verschüttet wurde. Man kann sie hier in Ruhe neu entdecken und Bezüge herstellen zwischen der Härte ihres Schicksals und der Kompromisslosigkeit ihres Schreibens. Der assoziative Bilderfluss erzeugt eine Empathie, die das Publikum nicht kalt lässt. Er lässt nachempfinden, was ihr widerfahren ist, weil es anschlussfähig wird an eigene Erlebnisse. Das macht Lust, ihr Werk neu zu entdecken. 

In seiner Zugewandtheit macht der Film vieles verständlich, was Elfriede Jelinek, die sich 2004 nach den Protesten vieler Österreicher gegen ihren Nobelpreis komplett aus dem öffentlichen Leben zurückzog, bis heute umtreibt. Dazu tragen auch die zahlreichen Textpassagen bei, die das Werk in den Film einflechten und von Schauspielerinnen und Schauspielern wie Sophie Rois, Sandra Hüller und Martin Wuttke vorgetragen werden. Die Porträtierte scheint gespürt zu haben, mit wie viel Zuneigung und Achtsamkeit die Regisseurin ans Werk ging. Zunächst begann Claudia Müller, aus Respekt vor Jelineks genereller Verweigerung von Interviews, nur mit Archivmaterial zu arbeiten. Aber später, als der Rohschnitt schon fast fertig war, machte die seit zwei Jahrzehnten öffentlichkeitsscheue Autorin eine Ausnahme. Sie gewährte ein aktuelles Gespräch und einen kleinen Dreh. Zu entdecken ist eine entspannte, selbstreflektierte und manchmal auch ironische Frau, die sehr offen über ihr Schreiben und ihr Leben spricht.

Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen (2022)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Die Prophetin im eigenen Land

Wie kann Sprache zu Literatur werden, und wie im Kino über diese Literatur sprechen? Claudia Müller porträtiert Elfriede Jelinek, im Mittelpunkt deren Werk, insbesondere ihre Sprachformen, ihr Formen der Sprache. Vom musikalischen Fluss, von der Macht und der Leidenschaft der Sprache, vom Thematisieren sozialer Klischees ist die Rede bei der Begründung der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2004 – doch Müller vermeidet es, die typischen Talking Heads von Experten und Exegesen ins Bild zu setzen, sie macht keinen Film über Jelineks Sprache, sondern mit Jelineks Sprache.

Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen besteht aus Archivmaterial, aus Interviews mit der Schriftstellerin, aus Ausschnitten von Lesungen, von Theateraufführungen, aus TV-Sendungen über sie – in Form gebracht in einer ausgesprochen rhythmischen, durchaus assoziativen, aber nie abwegig-willkürlichen filmischen Montage, in die Bilder der historischen Steiermark einfließen, aus der Gegend, in der Jelinek aufgewachsen ist, Momentaufnahmen österreichischer Politgeschichte mit Waldheim, dem Altnazi als Bundespräsident, mit Haider, mit Protestbürgern gegen Jelinek. Und kontrastiert mit ruhigen Fahrten und Schwenks durch Landschaften, vermischt mit dem Lesen von Textpassagen, für die Künstler wie Sophie Rois und Sandra Hüller, Maren Kroymann und Martin Wuttke gewonnen werden konnten.

Von diesen Texten her erschließt sich der Film die Biografie, unterstützt von Aussagen Jelineks über ihr Aufwachsen zwischen erzkatholischer mütterlicher Seite – die blutigen Märtyrer-Heiligenlegenden! – und jüdischer väterlicher Seite – die realen Toten des Holocaust! –, über die Hinwendung zur Literatur, experimentell, aktionistisch, über einzelne Texte und Stücke und über deren Verhältnis zu Österreich. Sprache wird in dem Film als Kunst betrachtet, eine Kunstbetrachtung, die zurückführt zur Künstlerin.

Jelinek wendet ihr eigenes Erleben in ihren Texten an, durchmischt verschiedene Stimmen, schreibt sozusagen fürs Gehör, die Laute der Worte sind wichtig; sie nimmt ihr eigenes Erleben – die Familie, die Heimat, die Gesellschaft, wie sie ihr begegnet – auf und transportiert sie hinauf ins literarische Denken. Dafür wurde sie gefeiert – bis man in Österreich bemerkte, wie politisch das alles ist, und wie sehr sie den braunen Dreck aufwühlt, der sich so schön abgesetzt hat unter der klaren, reinen Gegenwart eines Felix Austria. Nestbeschmutzerin – wie kann man Österreich so in den Dreck ziehen! Ein allzu bekanntes Muster der Verachtung dessen, der genau hinschaut, das durch den Nobelpreis nicht besser wurde. Jelinek zieht sich zurück. Claudia Müller hat kein Bildmaterial in ihrem Film von nach 2004. Dass Jelinek nicht nachlässt, das macht sie deutlich durch deren Texte; durch ein sorgsam verstecktes aktuelles Audio-Interview, das sie mit einfließen lässt.

Elfriede Jelinek ist nicht persönlich anwesend in diesem Film – aber sie hat ihn begleitet, im Austausch mit der Regisseurin. Sie hat den Film gesehen, und sie ist höchst zufrieden. Weil hier etwas entstanden ist, mit dem man kompakt, aber tiefgehend diese Schriftstellerin verstehen kann.

Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen (2022)

„Wunderkind, Skandalautorin, Vaterlandsverräterin, Feministin, Modeliebhaberin, Kommunistin, Sprachterroristin, Rebellin, Enfant terrible, Nestbeschmutzerin, geniale, verletzliche Künstlerin“. Der Film über Elfriede Jelinek, die 2004 als erste österreichische Schriftstellerin mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, stellt ihren künstlerischen Umgang mit Sprache in den Mittelpunkt. Vielschichtig und assoziativ nähert er sich der Kunst seiner Protagonistin mit ihren eigenen sprachkompositorischen Verfahren. (Quelle: Farbfilm Verleih)

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