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Mit „Elaha“ gibt die Regisseurin und Drehbuchautorin Milena Aboyan ihr Langfilmdebüt. Darin erzählt sie von einer jungen Frau, die auf ihre ganz eigene Weise gegen das Patriarchat aufbegehrt.

Elaha (2023)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Verliebt, verlobt, verzweifelt

„Elaha“ feierte bei der 73. Berlinale Weltpremiere. Denn das Kinodebüt der Regisseurin und Drehbuchautorin Milena Aboyan ist sehenswert. Das Drama über eine Frau im Spagat führt direkt an die Weggabelung zwischen familiären Traditionen und individueller Freiheit – und beweist dabei Mut und Vielschichtigkeit.

Die 22-jährige Deutsch-Kurdin Elaha (großartig: Bayan Layla) kommt nie zur Ruhe. Wenn sie nicht gerade in der Wäscherei ihrer Schwägerin in spe arbeitet, in einem Berufsvorbereitungskurs sitzt oder ihre anstehende Hochzeit plant, dann kümmert sie sich liebevoll um ihren jüngeren Bruder (Réber Ibrahim), zofft sich mit ihrer pubertierenden Schwester (Derya Dilber) oder hilft ihrem Vater (Nazmi Kirik) bei Bewerbungen. An den Wochenenden zieht mit ihren besten Freundinnen um die Häuser, ohne das ihre traditionsbewusste Mutter (Derya Durmaz) etwas davon mitbekommt. Zeit für sich selbst hat Elaha, die noch bei ihren Eltern wohnt, kaum – in einer Wohnung, in der sich die Türen nicht abschließen lassen und ständig jemand kommt und geht. 

Steht Elaha doch einmal still, dann kreisen die Gedanken. Soll sie ihr Abitur nachholen, wie es ihr die Berufsberaterin Stella (Hadnet Tesfai) nahelegt, obwohl sie bald in den Hafen der Ehe einfährt? Soll sie ihr heimlich geführtes Verhältnis mit dem Ex-Knacki Yusuf (Slavko Popadic) beenden oder ihn weiterhin in dessen Wohnung treffen? Und wie verdammt noch mal kommt sie an Kohle? Denn die große Frage, die über allem schwebt, ist die, wie sie ihrem Verlobten Nasim (Armin Wahedi) in der Hochzeitsnacht vorgaukeln kann, noch Jungfrau zu sein. Eine angedachte Operation, um ihren Hymen künstlich wiederherzustellen, ist teuer. Und ein Bürge für eine Ratenzahlung kommt nicht infrage.

Milena Aboyan wirft uns mitten hinein ins Leben dieses Wirbelwinds, den Bayan Layla so facettenreich auf die Leinwand zaubert. Die von ihr verkörperte Hauptfigur ist kompliziert und komplex und so zwiegespalten, wie die Lebensverhältnisse es ihr aufzwingen: selbstbewusst, dabei aber so sensibel, dass ihr Selbstbewusstsein nie auf Kosten anderer geht, bärenstark und zugleich verunsichert, die eigenen Traditionen gegen Pauschalurteile verteidigend und sie zeitgleich in Zweifel ziehend. „Ich liebe meine Familie und meine Tradition – ich bin nur manchmal mit den Regeln nicht einverstanden!“, sagt Elaha an einer Stelle zu ihrer Berufsberaterin. Dieser Satz bringt die Grundstimmung des Dramas gut auf den Punkt. Denn Aboyan gelingt es, in diese den Traditionen verhaftete Welt einzuführen, ohne sie vorzuführen oder gar zu verurteilen. 

Diese Welt ist vielschichtig und widersprüchlich, steckt voller Vor- und Selbsttäuschungen. Am Beispiel von Elahas Mutter, von Derya Durmaz mit enormer Leinwandpräsenz gespielt, wird deutlich, dass es dieser weniger um eine tiefe innere Überzeugung geht, und mehr darum, was andere von ihr denken oder hinter ihrem Rücken über sie sagen könnten, wenn Elaha sich nicht an die Traditionen hält. Das Fehlverhalten eines Familienmitglieds fällt auf die gesamte Familie zurück. Sippenhaft und soziale Kontrolle, wie wir alle sie in irgendeiner Ausprägung kennen. Elahas Verlobter Nasim wiederum rastet aus, als seine Kumpels sich über ihn und Elaha das Maul zerreißen, nachdem sie Elaha und deren beste Freundinnen Berivan (Cansu Leyan) und Dilan (Beritan Balci) ohne ihn, dafür aber in Begleitung anderer Männer zufällig vor einer Disco trafen. So unangebracht, übergriffig und missbräuchlich Nasims Reaktion darauf ausfällt, Aboyan entscheidet sich trotzdem dafür, sie so zu inszenieren, dass sie uns Zuschauenden die Entscheidung überlässt, ob und wie wir mit Nasim fühlen. Letzten Endes ist auch er ein Gefangener des Patriarchats und eines ungesunden, höchst problematischen Männerbilds, das wahrlich nicht nur in migrantischen Gruppen, sondern in der Gesamtgesellschaft vorzufinden ist.

„Die Geschichte der Sexualität der Frauen ist eine Geschichte männlicher Deutungshoheit über den weiblichen Körper“, sagt Aboyan in Bezug auf ihren Film. (Wie tief verinnerlicht viele Frauen diese Deutungshoheit haben, war jüngst etwa in Moshtari Hilals kluger Selbst- und Gesellschaftsanalyse „Hässlichkeit“ nachzulesen.) Stück für Stück und Körperteil für Körperteil erobert sich Elaha diese Deutungshoheit zurück. Und scheut sich dabei nicht, ihren Körper zu zeigen, ihn zu akzeptieren und zu lieben. Am Ende ist sie nicht länger mit einem Mann verlobt, in einen anderen verliebt und darüber verzweifelt, sondern weiß, was sie will. Mit einer Frau wie Elaha ist zu rechnen. Von deren Darstellerin, die für ihre Rolle eigens Kurdisch lernte, sowie von der Regisseurin werden wir auch in Zukunft hören.

Elaha (2023)

Eine nackte junge Frau steht vor einer laufenden Waschmaschine. Rückblende. Die 22-jährige Elaha versucht zwanghaft, eine vermeintliche Unschuld zurückzugewinnen, die sie durch Sex verloren hat. Ein plastischer Chirurg soll ihre sogenannte Jungfräulichkeit wieder herstellen. Doch sie kann das Geld für den kostspieligen Eingriff nicht aufbringen. Auf der Suche nach einer Alternative stößt sie auf ein besonderes Produkt — eine Kapsel mit künstlichem Blut. Doch diese vermeintliche Lösung zwingt sie in die Selbstausbeutung. Nach einigen schweren Rückschlägen entscheidet sich Elaha für ihre selbstbestimmte Sexualität als Frau.

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