Eine offene Rechnung

Eine Filmkritik von Lida Bach

Blutschuld

Die Wahrheit stirbt nicht. Sie lebt fort in der Erinnerung derer, die sie im Dunkel der Vergangenheit begraben haben, um eines Tages daraus aufzuerstehen. Ob sie nach langer Suche ausgegraben wird oder zufällig aufgestöbert, hat am Ende keine Bedeutung. Was zählt ist Schuld. Die Schuld, die Eine offene Rechnung im Originaltitel (dieser lautet The Debt) beschwört, ist nicht Schuldigkeit vor dem Gesetz, sondern eine Art Zoll, der gezahlt werden muss: damit die Waage ausgeglichen ist, damit keine Rechnung offen bleibt. Die Schuld fordert ihren Tribut in John Maddens geschliffenem Thriller, von denen, die sie begleichen und jenen, die sie einfordern.
Rachel Singer (Helen Mirren) ist eine Heldin. Als Agenten des israelischen Geheimdienstes waren die ehrgeizige Rachel, ihr idealistischer Kollege David (Ciran Hinds) und der kühle Kommandeur Stephen (Tom Wilkinson) mit der Festsetzung und Überführung eines Nazi-Kriegsverbrechers beauftragt. Über drei Jahrzehnte später hat die gemeinsame Tochter von Rachel und ihrem Ex-Mann Stephen ein Buch über die Mission veröffentlicht, für die alle vier Beteiligten mit ihrem Leben bezahlten. Der Kriegsverbrecher wurde bei einem Schusswechsel getötet. Die Menschen, welche die drei Agenten zuvor gewesen waren, starben bei dem Einsatz. Statt sich von den Geistern der ermordeten Angehörigen zu befreien, verlieren sich die Protagonisten in Folge der eskalierenden Ereignisse in der Hölle aus Reue, Schuldgefühlen und Schmerz. Das emotionale Trauma, das durch die Kriegserlebnisse der Elterngeneration im Unterbewusstsein der Figuren besteht, wird nicht bewältigt, sondern durch ein weiteres überschrieben.

Während David die Schattenexistenz mit Selbstmord beendet, erwacht der Tote von einst zu gespenstischem Leben. Der gleiche Name wie damals zwingt Rachel zu einer neuen Geheimmission. Ein Mann in der Ukraine behauptet Dr. Vogel (Jesper Christensen) zu sein, der „Der Schlächter von Birkenau“, dem Rachel einst in einem stickigen Zimmer in Ost-Berlin gegenüberstand. Das teuflische psychologische Kammerspiel in dem Unterschlupf, in dem die Agenten Vogel festhalten, ist das dunkel pulsierende Herz des Films. In dem engen Apartment, in dem Rachel (Jessica Chastain), Stephen (Marton Csokas) und David (Sam Worthington) auszuharren gezwungen sind, bis die Flucht mit dem Kriegsverbrecher möglich ist, sind die Agenten ebenso Gefangene wie Dr. Vogel. Die professionelle Konzentration weicht einer Mischung aus unterdrückter Aggression und sexueller Eifersucht, provoziert durch die unglückliche Ménage-à-trois zwischen Rachel, David und Stephen. Und Dr. Vogel ist darin geübt, deren fatale Eigendynamik in einem perversen psychologischen Duell hervorzulocken.

Bevor sie ihm in der düsteren Wohnung in die Augen sieht, war die Agentin, die damals kaum älter war, als es in der Gegenwart ihre Tochter ist, ihm noch näher. Um an den unter falschem Namen als Gynäkologen praktizierenden Arzt heranzukommen, muss Rachel sich als Patientin von ihm untersuchen lassen. Die irritierende Szene verdeutlicht metaphorisch das Ausmaß, in dem der Einsatz die Intimsphäre der Figuren transzendiert. Die Narbe in Rachels Gesicht steht synonym für den psychischen Einschnitt, den die Erlebnisse im Ost-Berlin des Jahres 1965 in ihrem Leben hinterließen. Wenn er vom glatten Parkett des Agententhrillers die seelischen Abgründe seiner Figuren umschleicht, zeigt Eine offene Rechnung das dramaturgische Potential, das der zu fest im Mainstream-Kino verwurzelte Plot nie völlig ausschöpft. Maddens eindringlichste Szenen tauschen die blank polierte Optik filmischer Vergangenheitsbewältigung gegen schäbiges Zwielicht als Sinnbild für die moralische Grauzone, in die die verfahrene Situation die Charaktere zwingt. Die raschen Schnitte weichen quälendem physischen Stillstand, in dem sich einzig die unterdrückten Impulse der Figuren regen.

In seinen besten Momenten gelingt Eine offene Rechnung ein ausgefeiltes Spiel mit den Erwartungen des Zuschauers. Die Rollenwechsel darin vollziehen sich mal gezielt, mal unerwartet und der äußere Anschein enthüllt sich als trügerischstes aller Kriterien. Der Eingangsszene, welche die junge Rachel und ihre Kollegen im heroisierenden und Klarheit symbolisierenden Sonnenlicht zeigt, geben die erschütternden Ereignisse den Beigeschmack quälerischer Schuld, die das nachsichtige Ende nicht versöhnen kann.

Eine offene Rechnung

Die Wahrheit stirbt nicht. Sie lebt fort in der Erinnerung derer, die sie im Dunkel der Vergangenheit begraben haben, um eines Tages daraus aufzuerstehen. Ob sie nach langer Suche ausgegraben wird oder zufällig aufgestöbert, hat am Ende keine Bedeutung. Was zählt ist Schuld.
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Meinungen

Jan · 23.10.2011

Deutschlandlied muss es natürlich heißen...

Jan · 23.10.2011

Nur eine kleine Anmerkung zur Plausibiliät: Wer glaubt an eine Mossad-Truppe, deren Chef sich in einem Mietshaus im Ost-Berlin der 60er Jahre ans Klavier setzt und das Deutschlandspiel klimpert, sodass es die Nachbarn hören müssen - und die erste Strophe dazu singt (während sich das Entführungsopfer in der Wohnung befindet)? Irgendjemand außer den Drehbuchautoren?