Ein Tick anders

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Tourette, die zweite

Da staunt die Personalchefin: Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, dass eine Bewerberin sie als „Nutte“ tituliert und ihr den Hitlergruß entbietet. Für den Kinozuschauer ist das lustig, für eine Jobsucherin mit Tourette-Syndrom die reinste Tragödie. Nach dem preisgekrönten Vincent will Meer (Lola in Gold und bester Darsteller) kommt nun eine weitere Komödie ins Kino, die das ernste Thema aufgreift.
Während das Ausreißer-Drama Vincent will Meer vor allem über die Kombination von gleich drei Außenseitern mit unterschiedlichen „Störungen“ funktionierte, widmet sich Ein Tick anders ausschließlich dem Tourette-Syndrom. Also dem unwillkürlichen Ausstoßen von Obszönitäten, begleitet von Muskelkrämpfen und Zuckungen. Der Film tut dies in einer luftig-leichten Art und Weise, mit einer Serie von guten Einfällen, die wie eine Nummernrevue von einer manchmal konstruiert wirkenden Handlung zusammengehalten werden. Kein Zweifel: Als Komödie mit ernstem Hintergrund hat Vincent will Meer deutlich mehr Stringenz. Dennoch dürfte auch Ein Tick anders seine Fans finden, vor allem dank seiner schrägen Charaktere und der wunderbar unbekümmerten Jasna Fritzi Bauer in der Hauptrolle, die für ihre Leistung mit dem Nachwuchsdarstellerpreis des Filmkunstfestes Mecklenburg-Vorpommern ausgezeichnet wurde.

Jasna Fritzi Bauer spielt den Teenager Eva, ein junges Mädchen mit „Schluckauf im Gehirn“, wie sie ihre unheilbare Krankheit beschreibt. Trotz heftiger Symptome geht es Eva ziemlich gut. Das liegt an ihrem lebensfrohen Temperament und an ihrem Einssein mit Natur und Tieren, zu denen sie eine innige Beziehung pflegt – ähnlich wie die ebenfalls psychisch kranke Lily im französischen Geschwisterdrama Barfuß auf Nacktschnecken. Es liegt aber vor allem an ihrer ebenso absonderlichen wie liebenswert-verrückten Familie. Vater (Waldemar Kobus), Mutter (Victoria Trauttmansdorff), Oma (Renate Delfs) und Onkel (Stefan Kurt) haben selbst so viele „Ticks“, dass ein paar Schimpfwörter kaum ins Gewicht fallen. Dennoch naht Unheil im Paradies: Der Vater wechselt den Job und will die Familie vom beschaulichen Marl nach Berlin mitnehmen. Für Eva der reine Horror: so viele Menschen, denen das junge Mädchen erstmal beibringen muss, wie jemand mit Tourette „tickt“. Also beginnt die Aktion „Hierbleiben“, ein kurioser Griff in die Trickkiste des Abenteuer- und Gangstergenres, zusammengehalten von einem märchenhaften Erzählton.

Regisseur Andi Rogenhagen macht es den Zuschauern leicht, sich für die Probleme des kranken Mädchens zu interessieren. Mit den Mitteln der Komödie zeigt er einen Alltag, der gar nicht alltäglich ist. Und führt so den Zuschauern auf unterhaltsame Weise vor Augen, wie es sich anfühlt, wenn man mehr als nur einen Tick anders ist. Die junge Eva erscheint am Ende als die normalste von allen, aber nicht als Ergebnis einer moralinsauren Predigt, sondern ganz einfach dadurch, dass sie uns ihr Leben erzählt – in den Bildern und im ergänzenden, kindlich-naiven Off-Kommentar. Fast so, als hätte sie uns ein Familienalbum mit bewegten Fotos gezeigt.

Dass dies trotz gewisser dramaturgischer Holprigkeiten gelingt, ist zu großen Teilen das Verdienst von Jasna Fritzi Bauer, die sich die Tics mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit angeeignet hat. Die junge Frau, die noch in Berlin zur Schauspielschule geht, agiert mit einer Natürlichkeit, als würde sie schon immer derart „ticken“. Wer weiß, vielleicht könnte sich sogar die biedere Personalchefin (Nora Tschirner in einer Gastrolle) daran gewöhnen.

Ein Tick anders

Da staunt die Personalchefin: Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, dass eine Bewerberin sie als „Nutte“ tituliert und ihr den Hitlergruß entbietet. Für den Kinozuschauer ist das lustig, für eine Jobsucherin mit Tourette-Syndrom die reinste Tragödie.
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Meinungen

Jandini · 11.07.2015

Stefan Kurt ist hier wieder mal überragend, spielt so cool und selbstverständlich die Rolle des kleinkriminellen Humanisten, einfach köstlich. Von mir aus könnte er in jedem guten Film eine Rolle haben, würde er immer hinkriegen.

Skeptische Mama · 10.09.2013

Kann man diesen Film, feigegeben ab sechs Jahren, bei den Kanonen an derbsten Schimpfwörtern tatsächlich mit Kindern anschauen? Ja! Mit heftigem Vergnügen! Wir haben gemeinsam höllisch gelacht, sind nachher prächtig ins Gespräch gekommen und haben auch die feinsinnigen Qualitäten der pointierten Dialoge und wunderbaren humanistischen Gesten dieser coolen Familie geschätzt. Respekt an den Regisseur: Ganz feiner Film! Wir lieben den Licht-im-Arsch-Song!

Zuschauer · 17.08.2011

Eine fantastische schauspielerische Leistung von Jasna Fritzi Bauer, dazu noch kann sie gut singen. Schon allein deswegen ist der Film sehens- und empfehlungswert

Querdenker · 13.08.2011

Der Film geht mit einer intelligeten Art und Weise mit der ernsten Problematik des Tourette Syndroms um. Man möchte häufig herzhaft lachen, aber dann wird einem immer wieder bewusst, dass sich hinter dem Humor mehr verbirgt. Eva wird beispielsweise immer wieder harsch von ihren Mitmenschen ausgegrenzt und gerade Personen, die ihre Problematik auf den ersten Blick zu verstehen scheinen, verhalten sich dabei besonders schlimm. Gleichzeitig ist der Film aber Lebensbejahend und gerade das hinterlässt am Ende dann nicht den Eindruck, als Zuschauer mit einem moralischen Holzhammer traktiert zu werden. Ja, es geht hier um eine Krankheit, aber wir Mitmenschen sind es letztendlich die sie so unerträglich machen und wir sind es auch die einlenken und verstehen lernen können.