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In ihrem autobiografisch inspirierten Werk „Do You Love Me?“ hält Tonia Noyabrova das Heranwachsen in der Ukraine kurz vor der Auflösung der Sowjetunion fest.

Do You Love Me? (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Tausche Uhr gegen Hasen

Die titelgebende Frage „Do You Love Me?“ stellt die 17-jährige Protagonistin Kira (Karyna Khymchuk) im zweiten Langfilm der 1983 in Kyiv geborenen Drehbuchautorin und Regisseurin Tonia Noyabrova gleich zweimal hintereinander ihrem Vater Lev (Maksym Myhayilychenko), einem Filmemacher, während die beiden im Auto unterwegs sind.

Die Handlung spielt circa ein Jahr vor dem Zerfall der Sowjetunion in der Ukraine. In dieser historischen Phase, die auf Ukrainisch „Perebudova“ (zu Deutsch etwa „Umbau“) genannt wird, macht auch die Familie von Kira auf privater Ebene eine Wandlung durch. Eines Tages taucht eine Frau namens Liza (Daria Palagnyuk) an Kiras Schule auf, die mit Lev in der Filmproduktion zusammenarbeitet. Wir hören nicht, was Liza Kira auf einer Parkbank erzählt, ehe die Jugendliche kurzerhand davonläuft – wir haben jedoch schnell eine Ahnung, als Kira zu Hause an der Jacke ihres Vaters riecht, um nach Hinweisen zu suchen.

Kira reagiert extrem selbstzerstörerisch auf den Konflikt, der sich bald zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter Vira (Natalia Lazebnikova) anbahnt – mit einem fatalen Mix aus Pillen und Alkohol. Der junge Notarzt Misha (Oleksandr Zhyla), den sie auf diesem unangenehmen Weg kennenlernt, wird von Kira schließlich als Mensch auserkoren, mit dem sie den Schritt ins Erwachsenenleben wagen möchte: Sie zieht mehr oder weniger ungefragt bei ihm ein und bezeichnet ihn prompt als ihren Verlobten.

Das autobiografisch gefärbte Werk lebt ganz von seiner eigensinnigen (Anti-)Heldin und von der detailreichen Zeichnung der damaligen Zeit. Kira will Schauspielerin werden – und wir beobachten in Do You Love Me? eine stets fiebrig wirkende Person, die nach der Devise „Fake it till you make it“ einfach mal so tut, als wüsste sie bereits alles und als habe sie den richtigen Dreh, was Selbstständigkeit und Verantwortung betrifft, schon längst raus.

Als Lev seine Tochter in der Wohnung besucht, die sich Misha mit einigen anderen Leuten teilt, und Kira ihrem Vater betont lässig und mit völliger Selbstverständlichkeit einen Tee anbietet, als würde sie seit Jahren in dieser Küche nichts anderes tun, als Tee zu kochen, ist es wirklich herrlich mitanzusehen, wie Hauptdarstellerin Karyna Khymchuk diese Vorspiegelung von Souveränität im ungeschickten Umgang mit dem alten Gasherd auskostet.

Wenn Kira versteckte Zigaretten aus einem Teddy zieht, wenn sie einem Schneemann mit ihrer Tasche in einer juvenilen Trotzbewegung den Kopf abschlägt oder wenn sie wie hingeworfen im Schnee liegt, sind das prägnante Bilder einer Coming-of-Age-Geschichte. Die 17-Jährige ist eine impulsive Figur, die etwa aus einer spontanen Lust heraus ihre Uhr hergibt und diese gegen einen niedlichen Hasen eintauscht, um den sie sich fortan kümmern muss. Der Pop-Song Venus von der britischen Girlgroup Bananarama dient wiederholt zur Charakterisierung von Kira – und warum sollte sich eine Jugendliche in einer derart ungewissen Zeit auch nicht als „Goddess on the mountain top“ fühlen dürfen?

„Es passiert etwas in der Welt“, heißt es an einer Stelle des Films. Dieses teils hoffnungsvolle, teils beängstigende Empfinden wird in vielen Momenten von Do You Love Me? spürbar. Während in der Schule gerade mal wieder die Heizung ausfällt, übt „der Westen“ auf Kira und deren Clique eine gewisse Faszination aus – Pepsi, Rambo und Terminator auf VHS (oder eben ein Porno in ziemlich schlechter Bildqualität). Die Räume, in denen sich die Figuren aufhalten, haben nichts Kulissenhaftes, sondern muten tatsächlich bewohnt an. Wenn wir Kira nach rund 90 Minuten verlassen, ist klar: Dieses Leben wird weitergehen, mit etlichen Höhen und Tiefen: „She’s got it / Yeah, baby, she‘s got it!“

Do You Love Me? (2023)

Die Ukraine ein Jahr vor dem Zerfall der Sowjetunion. Kira ist 17, angehende Schauspielerin und lebenslustig, was sie vor dem Spiegel im eigenen Zimmer zu „Venus“ von Bananarama nur zu leicht unter Beweis stellt. In jener Zeit, die sich auf Ukrainisch „Perebudova“ – Umbau – nennt, sind bunte Nylonseidenstrümpfe der letzte Schrei, die Generation der Eltern feiert mit Kaviarbrötchen und Kristallgläsern zwischen nicht ganz konformistischer Malerei, und die Bohème fragt sich, wo man günstig Dollar kaufen kann. Kira zieht sich derweil mit West-Treibgut aus der Plastiktüte in die Küche zurück: Kaugummi, Glitzerpulli und Pepsi aus der Dose. Ihr Leben fängt gerade erst richtig an, als ihre Familie und das Land, in dem sie lebt, auseinanderbrechen.

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