Die Witwe von Saint-Pierre

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Montag, 10. Januar 2011, ARTE, 20:15 Uhr

Im Jahre 1849 auf der französischen Atlantikinsel Saint-Pierre unweit Kanadas: Der Seemann Neel Auguste (Emir Kusturica) ist ein Bär von einem Mann, der eines Nachts nach einem trinkseligen Feierabend gemeinsam mit seinem Kumpel Ollivier (Reynald Bouchard) aus einem derben Scherz heraus den alten Coupard (Michel Daigle) malträtiert. Der Mann stirbt, und Neel Auguste, der den genauen Hergang der Tat auf Grund seiner Trunkenheit nicht mehr erinnert, wird zum Tode verurteilt. Doch noch kann die Strafe nicht vollzogen werden, denn auf der Insel fehlt sowohl die dafür vorgeschriebene Guillotine als auch der entsprechende Henker, so dass der Seemann zunächst inhaftiert und vom Gouverneur (Michel Duchaussoy) dem befehlshabenden Kapitän von Saint-Pierre, Jean (Daniel Auteuil) unterstellt wird. Dessen ebenso schöne wie gutherzige Frau Pauline, genannt Madame La (Juliette Binoche), nimmt den verurteilten Mörder unter ihre Fittiche, und Neel Auguste entwickelt sich bei einigen Freiheiten jenseits seiner Zelle allmählich zu einem fleißigen, bedächtigen Mann, dessen engagierter Einsatz für die alltäglichen Belange der kleinen Inselgemeinde ihm reichlich Respekt und Ansehen einbringt. Eines Tages aber ist es tatsächlich so weit, und die aus Paris entsandte Guillotine, auch als „Veuve – Witwe“ bezeichnet, trifft auf Saint-Pierre ein …
Es ist zuvorderst das durchweg beeindruckende Ensemble mit seinen schauspielerischen Qualitäten, das diesen mit sorgfältigen historischen Details ausgestatteten, auf einer tatsächlichen Begebenheit beruhenden Film zu einem ansprechenden wie aufregenden Filmerlebnis werden lässt. Ein beherrschter Daniel Auteuil, eine gefühlvolle Juliette Binoche sowie ein urwüchsiger, mit moralischer Ambivalenz behafteter Emir Kusturica stellen ein kurioses Team dar, das die filigranen Facetten von Leidenschaft und Liebe ganz hervorragend zu verkörpern versteht. Einzeln und auch im Zusammenspiel vor der malerischen Kulisse des Meeres und der Inselwelt treffen hier gleichermaßen starke wie tragische Charaktere aufeinander, die bewegende Schauspielkunst auf hohem Niveau präsentieren.

Die Inszenierung dieser geradezu parabelhaft anmutenden Geschichte ist dem französischen Filmemacher Patrice Leconte (Der Mann der Friseuse / Le mari de la coiffeuse, 1990, Das zweite Leben des Monsieur Manesquier / L’homme du train, 2002, Mein bester Freund / Mon meilleur ami, 2006), der zu seinen Akteuren gern eine fast sinnliche Beziehung unterhält, mit eindringlicher Intensität und großartigen Bildern gelungen. Seinerzeit zweifach für den César und weitere Filmpreise nominiert wurde Die Witwe von Saint-Pierre beim Internationalen Filmfestival von Moskau mit dem Preis der russischen Filmkritiker ausgezeichnet und erhielt den Sant Jordi Award für Daniel Auteuil als Besten ausländischen Darsteller.

Die Witwe von Saint-Pierre lief seltsamerweise in Deutschland nicht im Kino, fand aber international insgesamt erfolgreiche Beachtung. Das schwerlastige Thema von Schuld und Strafe sowie Wandlung und Vergebung erreicht hier eine dramatische Zuspitzung, die von berührender Emotionalität begleitet wird. Die Figur des verurteilten Mörders, der eine Entwicklung zum verantwortungsbewussten, tragenden Mitglied einer im Grunde rohen Gesellschaft vollzieht, ist das Paradebeispiel einer achtsamen Umerziehung, die auch das einfache Volk überzeugt und brisante Fragen zum Territorium des Strafvollzugs aufwirft. Nicht zuletzt aber erzählt dieser Film eine tiefschichtige Liebesgeschichte, die unter dem bitteren Stern des Verzichts steht und trotz ihrer gewaltigen Tragik durchaus einiges an Trost für jene bereit hält, die keinen anderen zu finden vermögen.

Die Witwe von Saint-Pierre

Im Jahre 1849 auf der französischen Atlantikinsel Saint-Pierre unweit Kanadas: Der Seemann Neel Auguste (Emir Kusturica) ist ein Bär von einem Mann, der eines Nachts nach einem trinkseligen Feierabend gemeinsam mit seinem Kumpel Ollivier (Reynald Bouchard) aus einem derben Scherz heraus den alten Coupard (Michel Daigle) malträtiert.
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