Die wilde Zeit

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

"Allons enfants de la patrie..."

Olivier Assayas´ neuer Film Àpres Mai, der in Deutschland als Die wilde Zeit in die Kinos kommt, zeigt die Nachwehen des Revolutionsmonats Mai 1968, er spielt 1971, als die französische Linke noch stark war, aber auch zerrissen. Wir folgen Gilles, Kunststudent, linksradikal und anarchistisch, der sich durch die revolutionären Zeiten treiben lässt und dabei seinen Weg sucht, politisch, künstlerisch, persönlich.
Gilles will malen, Filme machen, dabei seine politische Haltung bewahren; zwei Frauen gibt es in seinem jungen Leben, Laure, ätherisch und zunehmend ausgeflippt, und Christine, die die radikale Aktion betreibt. Mit ihr wird er nach Italien gehen, kurze Zeit untertauchen nach Gewalt gegen Sachen, die zu Gewalt gegen Personen wurde. In der Szene des agitatorisch-revolutionären Films hält er es nicht aus, zurück in Paris sind seine Freunde und Weggefährten in die Winde zerstreut, nach London, Süditalien, Afghanistan. Und er versucht sich, in Kunst und Leben und Lebenskunst, sogar mit einem ordentlichen Job bei seinem Vater, der Maigret-Verfilmungen produziert.

Olivier Assayas steigt ein in diese Zeit, er kennt sie persönlich, denn seine Hauptfigur Gilles ist durchaus autobiographisch gefärbt. Ihm gelingt das vollkommene Eintauchen in Denken und Sein dieser Zeit, vor 40 Jahren, die heute fremd scheint, heute, da die Utopie, der Gedanke an eine bessere Welt niemanden mehr um- oder gar antreibt. Er blickt in die linke Szene, vollkommen unnostalgisch, aber zugetan, eine Szene mit all ihren Abspaltungen und Vereinzelungen, zwischen Leninisten, Trotzkisten, Arbeitern und Studenten, Maoisten und Anarchisten. Immer wieder mit dem Zwang zur Rechtfertigung der eigenen politischen Haltung, zur klaren Positionierung im revolutionären Kampf. Das wirkt aus heutiger Sicht absurd – und doch: Ist ein solches politisch-gesellschaftliches Bewusstsein nicht besser als gar keines?

Gilles gerät mehr und mehr in die Zwischenwelt des Persönlichen und des Politischen, der Ansprüche, die er hat, und derer, die an ihn herangetragen werden, die er sich zueigen machen will. Das ist ein faszinierendes Wechselspiel der Perspektiven, dieses komplexe Porträt der linken Szene, die selbst immer wieder mit sich ringt, und die sich immer wieder in eigenen Widersprüchen verfängt. Und die doch alles durchdringt.

Assayas stellt nichts nach, der Film ist kein Re-Enactment. Er ist ein Wiederbeleben, ein Zurückholen in die Gegenwart, auf die Leinwand; wie auch sein vorheriges Meisterwerk Carlos — Der Schakal ganz aus seinem Sujet heraus erzählt wurde. Die Mode, das Aussehen, das Verhalten, die Bewegungen und Farben von Die wilde Zeit sind ebenso perfekt gestaltet wie die musikalische Ebene, die ihr ganz eigenes Gewicht hat. Songs von Syd Barrett, Captain Beefheart, der Incredible String Band werden voll ausgespielt, mit den Bildern in Bezug gebracht, als eigenständige Elemente des damaligen Seins. Gegen Ende gar nehme wir teil an einem psychedelischen Free-Rock-Konzert inklusive Lightshow mit Diacollage, ein fantastisches Erlebnis. Man wäre gern dabei gewesen – und das ist auch die Haltung, die Assayas für seinen Film hegt: Er war dabei gewesen, und es ist wichtig, das zu sagen und zu zeigen; gerade heute.

Die wilde Zeit

Olivier Assayas´ neuer Film „Àpres Mai“, der in Deutschland als „Die wilde Zeit“ in die Kinos kommt, zeigt die Nachwehen des Revolutionsmonats Mai 1968, er spielt 1971, als die französische Linke noch stark war, aber auch zerrissen. Wir folgen Gilles, Kunststudent, linksradikal und anarchistisch, der sich durch die revolutionären Zeiten treiben lässt und dabei seinen Weg sucht, politisch, künstlerisch, persönlich.
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