Die Unwertigen

Eine Filmkritik von Red.

Aufarbeitung eines noch nicht bewältigten Unrechts

60 Jahre sind eine lange Zeit. Doch auch heute noch leiden die Protagonisten dieses Dokumentarfilms von Renate Günther-Greene unter dem Unrecht, dass ihnen vor etlichen Jahrzehnten widerfuhr und das sie auch nach so langer Zeit noch nicht losgelassen hat. Zumal sie noch immer auf eine Wiedergutmachung warten. Im nächsten Jahr wird sich der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages mit den Zuständen in Kinder- und Jugendheimen befassen. Und damit die Angelegenheit hoffentlich zu einem formaljuristischen Abschluss bringen. Das gestohlene Leben, von dem dieser Film berichtet, wird aber auch das nicht wieder zurückbringen.
Es brauchte nicht viel, um in der Zeit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft als „unwertig“ abgestempelt zu werden. Im Falle von Elfriede Rybak, geb. Schreyer war es eine simple Schreib- und Leseschwäche, die ihr zum Verhängnis wurde. Mit der Diagnose „mittlerer Schwachsinn“ wird sie von den Ärzten in das Kinderheim Kalmenhof eingewiesen und muss als Neunjährige mit ansehen, wie etliche ihre Kameraden den gezielten Tötungen durch die Ärzte zum Opfer fallen. Doch auch nach dem Ende des Krieges ist ihr Martyrium nicht vorbei. Ohne die Diagnose der NS-Ärzte zu hinterfragen, wird diese in den Jahren nach dem Krieg aufrecht erhalten, Frau Schreyer bringt drei Kinder auf die Welt und bekommt alle wieder abgenommen, weil es ihr als „Schwachsinniger“ nicht erlaubt ist, Kinder großzuziehen. Erst als eine Psycholgin in den Siebzigerjahren auf sie aufmerksam wird und die „Behinderung“ genauer unter die Lupe nimmt, kommt die Heiminsassin nach 35 Jahren endlich frei und kann ein selbstbestimmtes Leben führen.

Renate Günther-Greenes erschreckender Film Die Unwertigen findet viele solcher Beispiele für den Rassenwahn und die Behandlung behinderter, sozial auffälliger oder einfach nur renitenter Kinder durch die Nationalsozialisten. Neben Elfriede Rybak sind es drei weitere Fälle, denen die Regisseurin auf den Grund geht und anhand derer sie das ganze Ausmaß der Gründe und Zwangsmaßnahmen aufzeigt.

Im Fall von Günter Ditscher beispielsweise, der heute 86 Jahre alt ist, genügte es, dass dieser zu Beginn der 1940er Anhänger der als „entartet“ geltenden Swing-Kids war, die durch ihre Vorliebe für Jazz und ihre Kleidung in klarer Opposition zu den Idealen der Nazis standen. Im Alter von 17 Jahren kommt Ditscher in ein Jugend-KZ, viele seiner Mitinsassen sterben an den Folgen der katastrophalen Lebensbedinungen dort. Oder Waltraut Richter aus Litauen, deren Mutter politischen Häftlingen hilft und die von Nachbarn verraten wird. Die Mutter kommt daraufhin ins KZ, die Kinder ins Heim, wo die Geschwister später getrennt werden und sich erst Jahre später wieder treffen. Und Richard Sucker, der als uneheliches, als „asoziales“ Kind auf die Welt kam, wird seiner Mutter bereits als Kleinkind weggenommen und erfährt eine „Heimkarriere“, die von Prügeln und Zwangsarbeit geprägt ist. Auch ihm hat sich die Erfahrung eingeprägt, dass sich an seiner Situation nach dem Ende des Krieges eigentlich nichts geändert hat.

Renate Günther-Greene ist per Zufall durch den Lebensgefährten einer Freundin auf das bis heute weitgehend verdrängte Thema der „Aussortierung“ von Kinder und Jugendlichen, die nicht in das nationalsozialistische Weltbild passten, gestoßen. Und es hat sie nicht mehr losgelassen. Ihr unaufdringlich gestalteter, aber umso eindringlicherer Film ist ein wichtiges und bedrückendes Dokument und zeigt in erschreckender Weise, wie lange sich das Gedankengut der Unwertigkeit bis in unsere Tage gehalten hat. Wenn im Jahre 2010 der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages über eine Wiedergutmachung für die Misshandlungen an Heimkindern in den 1950ern und 1960ern berät, dann sind die Opfer in vielen Fällen bereits unter den Nazis „aussortiert“ worden. Die Saat des Bösen, die von den Nationalsozialisten und vom Rassenwahn der Zwanzigerjahre gesät wurde, hat sich auch in der demokratischen Bundesrepublik als robustes Gewächs erwiesen. Nun ist es an der Zeit, mit diesem unrühmlichen Kapitel deutscher Geschichte endlich aufzuräumen. Gerade deswegen, weil das Herabsehen auf „bildungsferne Milieus“ und andere Randgruppen längst wieder zum guten Ton innerhalb der Gesellschaft gehört.

Die Unwertigen

60 Jahre sind eine lange Zeit. Doch auch heute noch leiden die Protagonisten dieses Dokumentarfilms von Renate Günther-Greene unter dem Unrecht, dass ihnen vor etlichen Jahrzehnten widerfuhr und das sie auch nach so langer Zeit noch nicht losgelassen hat. Zumal sie noch immer auf eine Wiedergutmachung warten.
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