Log Line

In ihrem Dokumentarfilm „Die unendliche Erinnerung“ porträtiert Maite Alberdi ein Paar aus Chile im Kampf gegen die Alzheimer-Erkrankung des Mannes.

Die unendliche Erinnerung (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Schön, dich (immer wieder) kennenzulernen!

Große Liebesgeschichten wie „Vom Winde verweht“ (1939) oder „Titanic“ (1997) werden oft in epischer Breite, mit herausfordernden Seitenzahlen von mehr als 1000 beziehungsweise Laufzeiten von (weit) über drei Stunden erzählt. „Die unendliche Erinnerung“ spielt im Titel ebenfalls mit dem Epischen, schildert das Gezeigte jedoch in kompakten 85 Minuten. Diese sind wiederum gefüllt mit so viel Tiefe und Gefühl, dass die Nachwirkung in ihrer Intensität jeden Wälzer und jedes mehrstündige Kino-Epos in den Schatten zu stellen vermag.

Die 1983 geborene Regisseurin Maite Alberdi, die für ihren Film Der Maulwurf – Ein Detektiv im Altersheim (2020) als erste Chilenin für einen Oscar nominiert wurde, widmet sich in ihrem dokumentarischen Porträt Die unendliche Erinnerung dem Politikjournalisten Augusto Góngora, der im Laufe seiner Karriere ausführlich über die Verbrechen des Pinochet-Regimes in seinem Land berichtete, und der Bühnen-, TV- und Kino-Schauspielerin Paulina Urrutia, die neben ihrer künstlerischen Arbeit auch als Kulturministerin in der ersten Regierung von Michelle Bachelet tätig war.

Augusto und Paulina sind zum Zeitpunkt der Dreharbeiten (vor Augustos Tod im Mai 2023) seit mehr als 20 Jahren ein Paar. Lange waren sie unverheiratet; erst wenige Jahre bevor Alberdi sie hier filmt, sind sie den Bund der Ehe eingegangen. Ein paar Jahre vor diesem Schritt wurde wiederum bei Augusto Alzheimer diagnostiziert. Die Entscheidung, gemeinsam gegen das Vergessen anzukämpfen, war eine ganz bewusste.

Ebenso geschieht nun das Erfassen dieses Prozesses mit der Kamera mit Augustos ausdrücklichem Einverständnis. Der Mann, der in seinem journalistischen Schaffen unermüdlich dafür sorgte, dass das in Chile vom Staat verübte Unrecht nicht straflos bleibt und vom Kollektiv einfach verdrängt wird, trägt in Die unendliche Erinnerung zusammen mit seiner Frau und der Filmemacherin dazu bei, dass auch der krankheitsbedingte Niedergang seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte etwas Sicht- und Erfahrbares wird, das nicht im Verborgenen stattfindet.

Der Film ist einerseits zutiefst traurig, da er uns bewusst macht, dass alles vergänglich ist. Andererseits schenkt er uns aber auch sehr viel Hoffnung: Die eigene Erinnerung mag im Alter verschwinden, der Körper wird irgendwann aufgeben – doch die Spuren unserer Taten bleiben. In alten Archivaufnahmen sehen wir Augusto als Journalisten im Einsatz und Paulina bei Auftritten und bei der Verleihung von Auszeichnungen. Heimvideoausschnitte aus den späten 1990er Jahren fangen das private Glück der beiden ein. All das ist äußerst berührend. Am eindrücklichsten sind allerdings die aktuellen Bilder, in denen deutlich wird: Diese Liebe ist nach zwei Dekaden keineswegs verblasst. Paulina hilft Augusto beim Duschen und Rasieren. Sie machen einen Spaziergang und tragen Sonnenhüte. Sie liest ihm vor. In einer Sequenz stehen sie zu zweit auf einer Theaterbühne.

Wenn Paulina Augusto von ihrem ersten Date erzählt, sind die beiden im Umgang miteinander so flirty, als könnten sie direkt wieder an dieses aufregende Gefühl der ersten Verliebtheit anknüpfen. Es sei schön, sie kennenzulernen, meint Augusto an einem Morgen im Bett, als er erwacht. Paulina ruft ihm dann geduldig alles in Erinnerung – dass dies ihr gemeinsames Zimmer ist, dass sie ein Ehepaar sind. Es ist unsagbar toll und überaus beeindruckend, diesen zwei Menschen in Alberdis intimer, aber doch stets respektvoller Betrachtung zuzuschauen. Wir werden uns noch lange an die beiden erinnern – das ist sicher.

Die unendliche Erinnerung (2023)

Als bei dem chilenischen Journalisten Augusto Góngora Alzheimer diagnostiziert wird, beginnt seine Frau, die fortschreitende Erkrankung per Video zu dokumentieren. Der Film lässt Tragik und Trauer erahnen, die das Hinabgleiten ins Vergessen für beide bedeutet.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen