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Vor 100 Jahren dokumentierte Jürgen Friedrich Mahrt die Natur, die Insekten- und Vogelvielfalt in Schleswig-Holstein. Nun gibt seine Urenkelin die Sammlung an Museen weiter – und zeigt, was uns diese Schätze über unsere Vergangenheit und unsere Zukunft verraten.

Die toten Vögel sind oben (2022)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Schatzfund auf dem Dachboden

Der Mann im weißen Kittel blickt auf das gerahmte Brett vor sich, sein Finger wandert zwischen den aufgespießten Schmetterlingen umher, die darauf fein säuberlich in Reihen angeordnet sind. „Diese Art ist ausgestorben, diese Art ist ausgestorben, diese Art ist ausgestorben …“, zählt er auf. Gut 100 Jahre sind vergangen, seit die hier drapierten Insekten über die Felder Schlesweig-Holsteins flatterten. Präpariert wurden sie einst von Jürgen Friedrich Mahrt, Naturdokumentar und Fotograf, der 1882 zur Welt kam und 1940 verstarb.

Vor einigen Jahren hat Mahrts Urenkelin Sönje Storm den Dachboden des ehemaligen Familienanwesens räumen lassen und die dort entdeckten Exponate Museen und Forschungseinrichtungen überantwortet. Und dieser Schatz ist riesig: tausende Fotografien, hunderte Insektensammlungen und ausgestopfte Vögel. Sie alle zeugen wie die Schmetterlinge in der Hand des Weißkittels von einer Zeit, seit der vieles geschehen ist. Allem voran der Verlust von Artenvielfalt und eine massive Veränderung des Landschaftsbildes in Deutschlands Norden.

Aus dem Off spricht Storm direkt zum Publikum, berichtet von Marths Lebensgeschichte und Leidenschaft für die Natur. Ihr Urgroßvater verwehrte sich der landwirtschaftlichen Familientradition, gab den Hof schon früh an seine Söhne weiter, war im Ersten Weltkrieg als Aufklärungsfotograf an der Front und widmete sich schließlich seiner Umwelt. Storm stellt sich selbst die Frage: War er nur ein Tagträumer oder ein Idealist mit einem Ziel, das wichtiger war als der Hof?

Wahrscheinlich beides. Denn einerseits dokumentierte Mahrt die Natur seiner Zeit in aller (soweit damals technisch möglichen) Authentizität. Andererseits griff er auch ein oder verfremdete diese Dokumente teils künstlerisch, sowohl durch Kolorierung als auch das Stellen von Fotografien: Wie sich herausstellt, handelte es sich vor allem bei den Greifvogelbildern vielfach um ausgestopfte Tiere, die er in möglichst natürlicher Pose ablichtete. Mahrt erweist sich als überaus ambivalenter Protagonist.

Das Herausragende an Die toten Vögel sind oben ist jedoch, wie Sönja Storm und ihre Filmeditorin Halina Daugird das neu gefilmte Material (Fachkundige, die Mahrts umfangreich Nachlass einordnen) mit Nahaufnahmen von Mahrts Fotografien verknüpfen. Die Montage verfügt über einen packenden Rhythmus, dem die sphärische, gern auch mal bedrohlich anschwellende Electronica-Musik von Dominik Eulberg und Bertram Denzel eine untergründige Mystik und Dramaturgie verleiht, ohne dass dies jemals aufdringlich wird.

Dem langen, ausführlichen Blick in die Vergangenheit fügt Storm am Ende einen nachdrücklichen Appell mit Blick auf den Klimawandel und das Artensterben an. Einst dokumentierte ihr Großvater, wie Moore entwässert wurden, wie die Sturmfluten das Land unter einem halben Meter Wasser begruben. Solche Fluten gebe es heute dank des Deichbaus nicht mehr, sagt Storm. Und dennoch: „Uns zeigen seine Bilder unsere Zukunft.“

Die toten Vögel sind oben (2022)

350 ausgestopfte Vögel. 3000 Schmetterlinge, Pilze, Käfer. Die Sammlung ist dokumenta-risch, obsessiv und poetisch. Ein gewisser Wahnsinn. Die Vielzahl an Objekten, Schmetter-lingskästen, Fotografien, über Stunden, wahrscheinlich sogar Monate, mit der Hand koloriert.Wer nimmt sich so viel Zeit, was war in diesem Kopf los? Regisseurin Sönje Storm öffnet in ihrem Film den Nachlass des Bauern Jürgen FriedrichMahrt (1882-1940), der ihr Urgroßvater war. Im Ersten Weltkrieg wurde er für die Luftaufklä-rung zum Fotografen ausgebildet und war an der Westfront eingesetzt. Ab 1919 beobachtetund dokumentiert er die Veränderungen in seiner Heimat: die menschlichen Eingriffe in dieNaturlandschaften, den Rückgang der Arten. Er sammelt die Tiere seiner Zeit und eröffnet1928 in seinem Bauernhaus ein kleines Naturkundemuseum. Mahrt beobachtet die fortschreitende Zerstörung fragiler Ökosysteme wie der Moore, dabeidokumentiert er, ohne es zu wissen, Ursachen unserer Klimaprobleme – Bilder aus der Früh-zeit des Anthropozäns.

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