Log Line

Von familiären Zwistigkeiten, den fatalen Folgen von Gewalt und den Möglichkeiten einer Wiederannäherung erzählt Ursula Meiers Familiendrama „Die Linie“, das aber keineswegs nur düster, sondern bisweilen erstaunlich leicht daherkommt.

Die Linie (2022)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Kontakt(verbots)zonen

Gleich zu Beginn von Ursula Meiers „Die Linie“ fliegen buchstäblich die Fetzen: Untermalt zu klassischer Musik und in Zeitlupe sehen wir verschiedene Gegenstände gegen eine Wand fliegen, offensichtlich wurden sie mit großer Kraft von einem Ort außerhalb des Bildraumes geworfen. Und schon hier gibt es allein anhand der Dinge, die da gegen die Wand knallen, erste Hinweise auf ein zentrales Thema, das im Leben der Menschen, die wir gleich sehen und begleiten werden, eine wichtige Rolle spielt. Denn neben Geschirr, einer Vase und anderen Haushaltsgegenständen sind es auch Notenblätter, CDs und LPs, die hier durch die Gegend fliegen.

Kurz darauf sehen wir dann die Ursache für das Chaos, von dem wir gerade Zeuge  geworden sein. Ein heftiger Familienstreit, ebenfalls in Slow Motion, nimmt seinen Lauf und erst mit der Zeit kann man in diesem Geknäuel aus Leibern genauer identifizieren, wer hier eigentlich gegen wen kämpft in diesem Ballett aus Körpern, Wut und schier unbändiger Energie. Und erst dann wird die begleitenden Musik durchbrochen von einzelnen, punktuell zu hörenden Geräuschen. Erst dann gelingt es den anwesenden Männern, die tobende junge Frau mit den kurzen Haaren unsanft vor die Tür in den Schnee zu befördern und man ahnt bereits hier, dass dieses Hinausschmeißen ein dauerhaftes sein wird. 

Dies ist der eindrückliche Auftakt zu Ursula Meiers nicht minder eindrücklicher filmischer Familienaufstellung Die Linie, in der irgendwann eine leuchtend blaue Demarkationslinie auftauchen wird, die die Grenzen zwischen einem familiären „Innen“ und einen „Außen“ markiert. Eine Metapher, wie man sie häufig in den Filmen Home und Winterdieb der Schweizer Regisseurin vorfindet: Trennlinien mitten in einer Landschaften, die Gegenpositionen, Separationen und Verhältnisse in die Gegend einschreiben.

Nach einem gewalttätigen Streit mit ihrer exaltierten Mutter Christina (herrlich überkandidelt: Valeria Bruni Tedeschi), in dessen Verlauf sie rasend vor Wut handgreiflich wird, erhält deren Tochter Margaret (Stéphanie Blanchoud) ein zunächst auf drei Monate befristetes richterliches Kontakt- und Annäherungsverbot: Sie darf sich dem Haus ihrer Familie nicht mehr als 100 Meter annähern, keinen Kontakt zu ihrer Mutter aufnehmen und strandet zunächst bei ihrem früheren Musikerkollegen Julian (Benjamin Biolay), der die grün und blau Geschlagene eher widerwillig bei sich aufnimmt. 

Die Sorge um das fragile Familiengefüge lässt sie aber auch in der erzwungenen Ferne nicht zu. Immer wieder sucht sie die Nähe zu ihrer 12 Jahre alten und damit um viele Jahren jüngeren Schwester Marion (Ellie Spagnolo), die sich gerade auf ihre Erstkommunion vorbereitet und dort Lieder vortragen soll. Christina, die leidende Mutter und früher gefeierte Pianistin, die seit der Auseinandersetzung durch einen Schlag aufs Ohr halbtaub ist und ihren Beruf als Musiklehrerin nicht mehr ausüben kann, ist nämlich so selbstbezogen und auch mit ihrem wechselvollen Beziehungsleben derart beschäftigt, dass sie für die Sorgen und Nöte des Nachzüglers buchstäblich kein Ohr hat. Und so übernimmt Margaret, die, wie sich herausstellt, seit langem schon immer wieder Probleme wegen ihrer Wut- und Gewaltausbrüche hat, die Aufgabe, mit E-Gitarre und einem Verstärker jenseits der blauen Linie, die Marion zur Sicherheit deutlich sichtbar aufgemalt hat, mit ihrer kleinen Schwester zu üben. 

Immer wieder kommt es entlang dieser Linie zu bemerkenswerten Szenen familiären Austauschs. Während Christina nach wie vor jeden Kontakt zu Margaret vermeidet, ist Marion die Mittlerin zwischen den verfeindeten Parteien und auch die dritte Schwester, die hochschwangere Louise (India Hair), sorgt mit ihrer Schwangerschaft und der Geburt der beiden Zwillingen ebenfalls für Formen und Rituale der Befriedung und des Ausgleichs. Und dann taucht da auch noch plötzlich ein neuer Mann in Christinas Leben auf, der um einiges jüngere Hervé (Dali Benssalah), der plötzlich alle Aufmerksamkeit der Mutter von ihrer Familie und vor allem ihrer jüngsten Tochter abzieht und der unter anderem nicht ganz freiwillig für einen sehr erheiternden Moment sorgt, als er an Weihnachten vor den Augen der entgeisterten Töchter seinen prächtig gebauten Oberkörper zeigen muss.

Mit präzisem Blick und kristallklaren Bildern, für die Ursula Meiers Stammkamerafrau Agnès Godard verantwortlich zeichnet und einen guten Gespür für ihre Figuren und die ebenso komplexen wie wechselvollen Binnenverhältnisse zwischen ihnen überzeugt Die Linie gänzlich. 

Die Linie (2022)

Schon früher fiel die 35 Jahre alte Margaret durch eine Neigung zur Gewalt auf. Als sie nun bei einem Streit ihre Mutter brutal angreift, wird sie verhaftet, später wird verfügt, dass sie sich dem Haus ihrer Familie nicht mehr als 100 Meter annähern darf. Doch der Wunsch, ihrer Familie nahe zu sein, ist übermächtig. Und so macht sich Margaret verzweifelt daran, die Folgen ihrer Tat wiedergutzumachen. Und dadurch gerät zugleich alles in Bewegung, was innerhalb der zerrütteten Familie schiefläuft. 

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