Die Kinder von Paris (2010)

Eine Filmkritik von Claire Horst

Filmische Bewältigung eines nationalen französischen Traumas

Diese grauenhaften Bilder vergisst man nie wieder. Das Pariser „Vélodrome d’Hiver“ ist statt mit Radfahrern und jubelnden Zuschauern angefüllt mit Tausenden von hungernden und verängstigten Menschen. Weder Toiletten noch Waschgelegenheiten gibt es, Kinder hocken zwischen ihren weinenden Eltern, der Schabbat wird auf den Zuschauerbänken kauernd gefeiert.

„Wann geht denn die Vorstellung los?“, fragt der fünfjährige Nono. „Die Vorstellung geben wir“, antwortet Jo, der mit seinen elf Jahren schon wie ein Erwachsener wirkt. Die Razzia des Winter-Velodroms ist ein Tabu in Frankreich, ein schmerzhaftes Thema, mit dem man sich nur ungern beschäftigt. 13.000 Pariser Juden und Jüdinnen wurden am 16. Juli 1942 auf Befehl der deutschen Besatzer verhaftet. 7.000 von ihnen wurden fünf Tage lang im Radrennstadion interniert, wo sie weder Nahrung noch Getränke erhielten. Von hier wurden sie in das Konzentrationslager Beaune-La-Rolande deportiert und schließlich ermordet. Nur 25 Personen überlebten. „Das interessiert doch keinen mehr“, bekam der Produzent Ilan Goldman bei den Vorbereitungen mehrfach zu hören – das Trauma sitzt tief.

Glücklicherweise hat sich Rose Bosch, Regisseurin und Drehbuchautorin, von diesen Reaktionen nicht abschrecken lassen. Sie erzählt die schockierende Geschichte anhand der Erinnerungen des Überlebenden Joseph Weismann. Seine Familie, Emigranten aus Polen, lebt in einer jüdischen Nachbarschaft im Pariser Montmartre-Viertel. Trotz der immer härter werdenden Gesetze – auch im besetzten Frankreich muss der Judenstern getragen werden, gelten Regeln ähnlich den Nürnberger Gesetzen – scheint eine Verfolgung der Juden wie in Polen unmöglich.

Zwar gibt es offenen Antisemitismus, gibt es eine Bäckerin, die Joseph und seinen Freunden nichts verkauft, doch groß ist auch die Unterstützung durch nicht-jüdische Nachbarn und Freunde. Die Fassungslosigkeit der Familie und ihrer Nachbarn, als eines Nachts eine Horde Polizisten erscheint und alle Juden verhaftet, ist daher grenzenlos. Ihr Leid im Velodrom, wo es die ersten Todesopfer gibt, im Konzentrationslager und schließlich auf den Transportzügen zu den Vernichtungslagern ist für die Zuschauer ebenso unbegreiflich wie für sie selbst. In seinem Aufbau erinnert der Film an Roberto Benignis Das Leben ist schön – auch dort bricht die Katastrophe über eine glückliche Familie herein.

Und ähnlich wie Benigni wählt auch Bosch die Kinderperspektive. Durch die Identifikation mit den beiden Hauptfiguren, dem elfjährigen Joseph und dem fünfjährigen Nono, rückt das Unbegreifliche immer näher. Die völlige Ausweglosigkeit, die Unmöglichkeit, das Geschehen zu verstehen, machen den Film schwer erträglich und zugleich ungeheuer wertvoll. In kurzen Einschüben zeigt Bosch auch die politischen Hintergründe der Judenvernichtung in Frankreich. Im Gegensatz zu den Szenen um Jo und Nono, die trotz aller Grausamkeiten bewegt geschildert werden, werden deutsche und Vichy-Vertreter in den immergleichen Positionen am Konferenztisch dargestellt. Das Schachern um Menschen erscheint in diesen Szenen als ganz normaler Geschäftsvorgang.

Doch Bosch scheut sich nicht, auch die andere Seite der französischen Besatzungszeit zu zeigen, die der Unterstützer der verfolgten Juden. Dank der Hilfe nicht-jüdischer Franzosen konnten 15.000 Pariser Juden den Deportationen entkommen – auch das ist Teil der französischen Geschichte. Neben den Weismanns steht deshalb die junge Krankenschwester Annette Monod (Mélanie Laurent, bekannt aus Tarantinos Inglorious Basterds) im Mittelpunkt. Gemeinsam mit dem jüdischen Arzt Dr. Sheinbaum (Jean Reno) steht sie ihren Patienten im Lager bis zum Ende bei.

Wie Joseph Weismann ist auch Monod eine reale Persönlichkeit. Sie gehört zu den in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrten Personen. Bosch gelingt mit dieser Darstellung ein Kunstwerk: Anders als in Filmen wie Schindlers Liste kommt nie der Eindruck auf, sie wolle die Verbrechen beschönigen oder den Fokus von den Tätern ablenken.

Die Kinder von Paris zeigt einen Teil der europäischen Geschichte, der bislang viel zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat und stellt damit auch ein Denkmal für die Opfer dar. Dabei verlässt sich der Film ganz auf seine großartigen Schauspieler. Besonders die Kinderdarsteller, die den Großteil der Szenen dominieren, beeindrucken ungeheuer. Ihre Verzweiflung wirkt genauso echt wie das trotzdem immer vorhandene Bedürfnis zu spielen, Kind zu sein.

Viel Mühe wurde in den Nachbau der Handlungsorte investiert. Selbst der Überlebende Joseph Weismann, der den Dreh besuchte, fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt: „Ich hatte plötzlich den Eindruck, als würde ich mich wieder inmitten all der Verhafteten befinden, mitten in dem Tohuwabohu, wie ich es damals erlebt hatte.“ Weismann erklärt auch selbst am besten, warum dieser Film so wichtig ist: „Weil man zeigen muss, was Menschen Kindern antun können – und weil man auch die Verzweiflung dieser Kinder zeigen muss. Sie wurden von ihren Eltern getrennt und konnten anschließend, obwohl sie kaum gelebt hatten, nur noch eins tun: auf den Tod warten, der eine Erlösung sein würde.“ Jungen Leuten heute soll der Film laut Weismann die Geschichte näher bringen. Denn „sie sind es, die die Geschichte von morgen schreiben.“

Der wichtigste Eindruck, der von diesem Film bleibt, ist eine tiefe Erschütterung. Dass das möglich ist, dass Menschen sich gegenseitig Derartiges antun, bleibt unbegreiflich. Bosch gelingt es, das Unbegreifliche in Bilder zu fassen. Einziger Kritikpunkt ist die sehr dramatische Musik. Eine so gefühlsbesetzte Handlung hätte nicht durch emotionale Kompositionen unterstützt werden müssen.
 

Die Kinder von Paris (2010)

Diese grauenhaften Bilder vergisst man nie wieder. Das Pariser „Vélodrome d’Hiver“ ist statt mit Radfahrern und jubelnden Zuschauern angefüllt mit Tausenden von hungernden und verängstigten Menschen. Weder Toiletten noch Waschgelegenheiten gibt es, Kinder hocken zwischen ihren weinenden Eltern, der Schabbat wird auf den Zuschauerbänken kauernd gefeiert.

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Meinungen

benny · 29.04.2010

danke mike,
gruß benny

@benny · 27.04.2010

Hallo, der Film hat noch keinen offiziellen Starttermin. Sobald wir mehr wissen, wird es hier veröffentlicht. Grüsse, Mike

benny · 27.04.2010

Hallo,

wann ist der Deutschland Start von La Rafle?

gruß benny