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Ein Mann will endlich die Familie kennenlernen, aus der er stammt. Der Alkoholismus seiner Mutter hatte bewirkt, dass er mit einer Beeinträchtigung auf die Welt kam und nicht richtig lesen lernen konnte. Nun wagt er mit einem betreuten Mitbewohner die Reise vom Land in seine Geburtsstadt Berlin.

Die Heimreise (2020)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Familiensuche mit Buddy und Navi

Bernd Thiele und sein Kollege Joann haben in einem Berliner Straßencafé eine Verabredung mit einem Privatdetektiv. Sie fragen sich, ob er einer der Männer um sie herum sein könnte. „Privatdetektive kommen immer mit dem Auto“, meint Joann. „Nicht unbedingt“, wendet Bernd ein. Der 38-Jährige ist in seine Geburtsstadt gereist, auf den Spuren seiner unbekannten Familie. Weil seine Mutter in der Schwangerschaft trank, kam Bernd mit einer leichten geistigen Behinderung zur Welt. Das Lesen gelingt ihm meistens nicht, weshalb er sich von seinem Mitbewohner Joann begleiten lässt. Die beiden leben und arbeiten auf einem landwirtschaftlichen Hof in Schleswig-Holstein.

Kurz nach dieser Szene erfahren die Zuschauer*innen von Bernd, dass der Detektiv abgesprungen ist, als er merkte, „dass wir Betreute sind“. Aber mit dem Personensuchdienst am Telefon hat Bernd mehr Glück. Es wird ein Besuchstermin bei einem Bruder seiner verstorbenen Mutter eingefädelt. Den Detektiv und den Suchdienst hatte das Filmteam an Bord geholt, wie ein eingeblendeter Text verrät. Für den Protagonisten und Tim Boehme, den Regisseur dieses Dokumentarfilms, ist es eine Win-Win-Situation: Das Filmteam unterstützt Bernd bei der Suche nach der Familie, organisiert auch ein kleines touristisches Begleitprogramm und bekommt im Gegenzug Stoff für ein bewegendes, aufregendes Roadmovie.

Joanns Aufgabe ist es, Bernd bei der Orientierung auf der Reise zu helfen. Er kennt sich mit Computern aus und hat ein Handy samt Navi. Aber kaum sind die beiden mit der Bahn in Hamburg, der ersten Station der Reise, angekommen, irren sie ratlos herum. Wo geht es zu welcher S-Bahn, wo hinaus aus dem Bahnhof, und wo versteckt sich das Hotel, in dem sie ein Zimmer gebucht haben?

Mit ihrer hellwachen Beobachtungsgabe und Neugier auf die fremde Großstadt und das Abenteuer liefern Bernd und Joann als lustiges Buddy-Paar die Bonmots, die das Roadmovie zu einem Vergnügen machen. Bernd fragt sich zum Beispiel, ob die Benutzung des Fernsehers im Hotelzimmer Verhandlungssache ist. Als der Guide der Kieztour durch St. Pauli ihn fragt, ob er sich trauen würde, zu einer Prostituierten ins Zimmer zu gehen, sagt Bernd: „Ehrlich gesagt, nicht, weil man darf sich nicht in die verlieben, ist doch richtig so?“

Immer wieder kehrt der Film auf der Zeitachse zurück auf den Bauernhof. Dort stellen Bernd und Joann ihre Arbeit und ihre Zimmer vor. In den Gesprächen mit einem Betreuer und Bernds ehemaliger Pflegemutter gewinnen die Motive Bernds, seine Familie zu suchen, Kontur. Das Jugendamt nahm ihn der Mutter früh weg, er lebte unter anderem in zwei Kinderheimen. Seit der Pubertät lässt ihn das Gefühl nicht mehr los, wie er erzählt, dass er wie geklont sei, so abgeschnitten von seiner Herkunft, ohne ein Foto seiner Eltern oder der unbekannten Halbschwester, die in den amtlichen Akten gar nicht auftaucht.

Als Bernd mit Anfang 20 den Kontakt zu seiner Mutter suchte, schickte sie ihm einen handgeschriebenen Brief. Den nimmt Bernd nun mit auf die Reise nach Berlin, zusammen mit einer schwelenden, vertrauten Wut, dass die Mutter ihn so geschädigt in die Welt entlassen hat. Vor allem aber will er Angehörige finden und mit ihnen eigene Wurzeln, die ihm dann wiederum Kraft geben sollen, nach vorne zu schauen.

Mit jedem Schritt, den Bernd und Joann auf ihrer Mission gehen, gewinnen sie für das Publikum Persönlichkeit. Joann, der oft zu Scherzen aufgelegt ist, findet sich in der Regel mühelos in der Rolle des hilfsbereiten Begleiters ein. Er hört zu und kann sich auch mal von Herzen mit Bernd freuen, als der tatsächlich bei der Suche weiterkommt. Wenn Bernd nach einem Besuch glücklich strahlt, wenn er sogar Spuren, die nicht bis ans erhoffte Ziel führen, dankbar als Erkenntnisgewinn verbucht, entstehen tief bewegende Momente. Dieser Protagonist wächst seinem Publikum ans Herz und verdient sich seinen Respekt, weil er sich so begeistern kann und seine Urteile und Schlussfolgerungen differenziert und sorgsam trifft.

Auch abgesehen von Bernds berührender persönlicher Geschichte ist dieser Film ein Gewinn, weil er, ohne sie konkret zu benennen, Fragen nach dem Stand der Inklusion in Deutschland aufwirft. Sowieso gibt es nur allzu selten Filme über Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu sehen. Zuweilen erinnert Bernds und Joanns Reise an die französische Sozialkomödie Alles außer gewöhnlich. Auch sie basierte auf realen Ereignissen und sang zwei Pariser Sozialarbeitern ein Loblied, die unermüdlich versuchten, ihre Schützlinge in einen möglichst selbstbestimmten Alltag zu integrieren. Dazu gehörte auch, einen jungen Autisten geduldig und trotz vieler Rückschläge an das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel zu gewöhnen.

Bernd und Joann hätten ihre Reise vielleicht ohne begleitendes Filmteam gar nicht machen dürfen, so ganz auf sich allein gestellt. Aber wenn man sie im Film erlebt, wie sie dazulernen, ihre eigenen Schlüsse ziehen, wird ersichtlich, dass sie rasch alleine in der Großstadt Wege zurücklegen könnten. Der Film macht einem aber auch bewusst, dass man Menschen wie ihnen kaum begegnet.

Immer noch werden sogenannte geistig Behinderte, ungeachtet ihres Potenzials, lieber in geschützten Einrichtungen betreut, als der Gesellschaft im Alltag zugemutet. Gut, dass es den Bauernhof gibt, auf dem sich Bernd und Joann wohlfühlen. Aber wie ist es um die Förderung bestellt, wenn ein Betreuter eine Ausbildung machen, ein Leben in der Stadt führen will? Es ist nicht bekannt, ob Bernd oder Joann sich das jemals gewünscht haben. Aber falls doch, dann läge es nicht an ihnen, dass daraus nichts wurde.

Die Heimreise (2020)

„Es nervt mich schon, wenn ich zwar die Buchstaben sehe, aber nicht zusammen kriege. Dann bin ich auch manchmal ein bisschen stinkig auf meine Mutter, warum sie mich nicht gleich im Bauch getötet hat.“ Als Sohn einer alkoholkranken Mutter wuchs Bernd in Heimen und bei Pflegeeltern auf. Er fühlt sich irgendwie geklont; immer auf sich alleine gestellt. Festentschlossen seine Familie zu finden, begibt er sich mit seinem Freund Joann auf eine ereignisreiche Reise in seine Geburtsstadt

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Meinungen

Inge Maria Mandac · 16.05.2020

Ich bin berührt.