Die Flüchtigen

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Mittwoch, 22. April 2015, ARTE, 20:15 Uhr

In dem Flüchtlingsstrom, der 1940 während des Zweiten Weltkriegs nach dem Einmarsch der deutschen Truppen Paris verlässt, befindet sich auch die verwitwete Lehrerin Odile (Emmanuelle Béart) mit ihren beiden Kindern Cathy (Clémence Meyer) und Philippe (Grégoire Leprince-Ringuet), im Auto mit wenigen Habseligkeiten auf der Landstraße Richtung Süden unterwegs. Als deutsche Flieger die flüchtenden Menschen bombardieren und Philippe in Panik kopflos über die Felder rennt, reißt ihn der Jugendliche Yvan (Gaspard Ulliel) schützend zu Boden und geleitet die Familie in ein kleines Waldstück abseits der Straße. Hier trennen sich die Wege der flüchtigen Bekanntschaft zunächst wieder, doch Philippe folgt dem überlebenstüchtig wirkenden Fremden und tauscht die Armbanduhr seines verstorbenen Vaters für dessen Begleitung und Unterstützung ein.
Nach einer gemeinsamen Übernachtung im Wald besorgt Yvan etwas Essbares und führt die Mutter und ihre Kinder anschließend zu einem verlassenen Haus, in das er einsteigt und das er als temporäre, komfortable Unterkunft für sie einnimmt. Als Yvan insgeheim die Telefonleitung kappt, beschleicht Odiles offensichtliches Misstrauen gegen den jungen Mann auch den Zuschauer, während Philippe und auch Cathy ihm deutliche Sympathien entgegenbringen. Auch wenn Yvans Organisationstalent, das sogar Waffen und Wein umfasst, auf einige illegale Kenntnisse und Umtriebe hinweist, mündet die abgeschottete Ausnahmesituation nach einigen Spannungen allmählich auch zwischen Odile und Yvan in eine gewisse Verbundenheit, die vor allem seitens des jungen Mannes auch eine erotische Komponente erhält, gegen die sich die attraktive Witwe allerdings energisch verwehrt …

Auch wenn der Krieg mit seinen gewaltigen, doch alltäglichen Schrecken das Szenario für André Téchinés einem Theaterstück ähnlichen, in einer idyllisch anmutenden Natur angesiedelten Drama bildet, ereignet sich die Handlung von Die Flüchtigen nach der Erzählung Le garçon aux yeux gris von Gilles Perrault doch lange nahezu in einem sozialen Vakuum. Der 2003 im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes uraufgeführte Film, der in Deutschland bedauerlicherweise weder in die Kinos kam noch auf DVD erschien, konzentriert sich ganz auf die Charaktere, Interaktionen und Beziehungen seiner vier Figuren, deren Haltungen und Werte angesichts der tiefgreifenden, existenziell bedrohlichen Veränderungen durch den Krieg und seine grausamen Nebenwirkungen ganz gehörig attackiert werden und nun der Unbeständigkeit eines schützenden, doch fragilen Exils ausgeliefert sind.

Die kindliche, unbedarfte Cathy in ihrer zarten Schutzbedürftigkeit, der pubertierende, nach Identifikationen suchende Philippe, der sich für seine Familie verantwortlich fühlt, und die gerade mit ihren bürgerlichen Idealen scheiternde, gegen ihre Ohnmacht kämpfende Odile ringen als Repräsentanten der Kriegsgeneration um ihr Vertrauen in sich selbst und der verstörten Menschheit gegenüber, während Yvan in seinem jugendlichen Alter offensichtlich bereits zuvor starke persönliche Unsicherheiten und Abgründe erfahren hat. Dieses ohne Pathos konstruierte Aufeinandertreffen unterschiedlicher menschlicher Befindlichkeiten und Welten inmitten einer gerade auseinanderberstenden Welt mit ihren ganz eigenen unauslotbaren Wendungen und Gesetzen hat Regisseur André Téchiné gleichermaßen unspektakulär und doch bewegend als sensible Studie über moralische Wechselspannungen in Ausnahmezeiten inszeniert, und dass am Ende eine schwer erträgliche Bitterkeit zurückbleibt, ist konsequent der Schwere dieses unerquicklichen, doch mutig thematisierten Stoffes geschuldet.

Die Flüchtigen

In dem Flüchtlingsstrom, der 1940 während des Zweiten Weltkriegs nach dem Einmarsch der deutschen Truppen Paris verlässt, befindet sich auch die verwitwete Lehrerin Odile (Emmanuelle Béart) mit ihren beiden Kindern Cathy (Clémence Meyer) und Philippe (Grégoire Leprince-Ringuet), im Auto mit wenigen Habseligkeiten auf der Landstraße Richtung Süden unterwegs.
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