Dicke Mädchen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Nackttänze im Plattenbau

Glaubt man den Auskünften so genannter Experten (man sollte ihnen immer misstrauen), dann hat Neukölln ein Problem. Aber mal ehrlich: Gegen den Ruf von Berlin-Marzahn ist das ein Klacks. Dort wohnen neben der notorischen Cindy in den Plattenbau-Siedlungen nämlich noch jede Menge weiterer korpulenter Menschen, entsorgt in Hochhäusern, in denen sie ihr Leben fristen. So zumindest glauben wir das. Dass nun ausgerechnet hier eine der schönsten deutschen Liebesgeschichten des Kinojahres 2012 herkommt, und dass diese Liebe dann auch noch zwei Männer mittleren Alters erwischt, ist zudem ein Ausrufezeichen der besonderen Art.
Mit sichtbar schmalem Budget und nicht viel mehr als einer Mini-DV-Kamera und wie stets in seinen Filmen ohne vorher festgelegtes Drehbuch zeichnet Axel Ranisch in seinem Film Dicke Mädchen den Beginn einer Liebe nach, bei der eigentlich nichts zueinanderpasst und die gerade deswegen umso schöner ist.

Seit 30 Jahren arbeitet Sven (Heiko Pinkowski) schon in der Bank. Und noch viel länger teilt er sein Bett mit seiner mittlerweile demenzkranken Mutter Edeltraut (Ruth Bickelhaupt), sorgt für sie, passt auf sie auf und hat dabei fast schon vergessen, dass er noch ein eigenes Leben hat, eigene Bedürfnisse, Wünsche und Leidenschaften. Wenn Sven zur Arbeit muss, passt der Pfleger Daniel (Peter Trabner) auf Edeltraut auf, die trotz ihrer Verwirrtheit sofort erkennt, wogegen sich ihr Sohn noch sperrt: dass ihm der Daniel schon gefällt. Als Edeltraut ihrem Pfleger ein Schnippchen schlägt und ausbüxt, kommen sich die beiden Männer näher. Zugleich aber beginnen damit die Probleme erst richtig, denn Daniel ist verheiratet und hat einen kleinen Sohn…

Die beiden Hauptpersonen dieser Romanze passen nicht in die Rollenklischees von Liebesromanzen – weder hetero noch schwul. Statt wohlgeformten Körpern und sauber definierten Sixpacks ist vor allem bei Pinkowskis Figur der BMI, diese Benchmark einer körperfaschistischen und gesundheitsdiktatorischen Gesellschaft, in Regionen weit jenseits der 30 (geschätzt). Aber ehrlich gesagt tut dies diesem Film keinen Abbruch. Und wenn man es sich recht überlegt, mag man solchen Menschen gerne viel öfter zuschauen beim ganz normalen Leben, beim Verlieben und nicht nur wie so häufig beim sozialpornografisch ausgeschlachteten Leiden an der Gesellschaft, an Verzweiflung, Alkoholismus und Hartz IV, an verkorksten Beziehungen zu den Eltern oder den Kindern. Der Befürchtung, beim nächsten gutgemeinten Sozialdrama einen Schreikrampf zu bekommen, setzen Axel Ranisch und seine Darsteller eine Natürlichkeit und Lebensfreude entgegen, die das quasi nicht existente Budget von 517,32 Euro für den Film schnell vergessen lässt.

Erscheint einem die ganze Szenerie, die von Fritz Kreislers wundervollem Walzer „Liebesleid“ (im Übrigen eines der bevorzugten klassischen Stücke des Rezensenten) hinreißend untermalt wird, noch als Ausbund der Skurrilität, verliert sich das Begaffen des Figurenensembles schnell in dem Zauber, der von diesem Film ausgeht und von seiner ganz beiläufigen Subversivität, die eigentlich keine sein müsste. Weil nichts, aber auch gar nichts daran seltsam, bizarr oder skurril ist, wenn sich Menschen ineinander verlieben, die nicht den gängigen Klischees von Schönheit entsprechen. Und weil dreimal nichts daran ist, wenn zwei dicke Männer mittleren Alters ihre Liebe füreinander entdecken. Im Gegenteil: Dass die Liebe alle irgendwann ereilt, ganz gleich ob in schicken New Yorker Designerlofts, in Altbauwohnungen in Mitte oder der Platte von Marzahn, dass sie keinen Unterschied macht zwischen straight, queer, bi und trans, dass sie jederzeit in den unmöglichsten Konstellationen zuschlagen kann und dass sie selbst eine Zweizimmerwohnung samt den Menschen die sich darin befinden, zum Tanzen bringen kann: Darin liegt ihre eigentliche Kraft, ihre Magie, ihre Unwiderstehlichkeit – und der Charme von Axel Ranischs Film.

Dicke Mädchen

Glaubt man den Auskünften so genannter Experten (man sollte ihnen immer misstrauen), dann hat Neukölln ein Problem. Aber mal ehrlich: Gegen den Ruf von Berlin-Marzahn ist das ein Klacks. Dort wohnen neben der notorischen Cindy in den Plattenbau-Siedlungen nämlich noch jede Menge weiterer korpulenter Menschen, entsorgt in Hochhäusern, in denen sie ihr Leben fristen.
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Meinungen

zelluloidparadies · 04.12.2012

Das ist Film ! Das ist Filmkunst! Godard,Jarmusch, Kaurismäki und Praunheim lassen grüßen!

Eine M. · 30.11.2012

Hab den Film heute geschaut: Richtig Cool! Treffendes Berliner Flair, reizend rübergebrachte Wortbanalitäten, warme Geschichte! Gab Zeiten, da tönte Kreislers Liebeslied aus den U-Bahn-Schächten, auf allen möglichen Instrumenten. Übrigens eine sensible, tolle Rezension, spricht mir aus dem Herzen! So muss Filmkritik auch sein, Kulturkritik entlang des noch viel zu wenig im Jetzt angekommenen Zeitgeistes, exemplarisch im Fiktiven! Fein gewebt!!!

Matthi · 16.11.2012

Wann läuft "Dicke Mädchen" endlich in Kassel??
Ich will da rein!!!

lottalanija · 06.12.2011

eib zauberhaftes stück leben im filmformat. danke !

Ariane Erdelt · 05.11.2011

Sehr schräg. Sehr mutig und sehr sehenswert!